FLEXEN. Mirjam Aggeler
die neben ihm sitzen und über den Jungen tuscheln. Seine Mutter hatte einen Schlaganfall. Seitdem ist sie ein Pflegefall und ihr ältester Sohn am Brennen. Die Frauen sagen, damals hat er Alkohol auf dem Spielplatz getrunken. Alkohol und dann noch in der Öffentlichkeit, ist eine Kombination, die für die Deutschländer im Wedding nicht üblich ist. Als sei das Alkoholverbot in der Öffentlichkeit aus Polen nach Berlin übergeschwappt. Die Routine des Jungen hat sich geändert. Er steht seit diesem Jahr stundenlang vor der City-Toilette oder vor Kaufland. Manchmal auch vor dem Friedhof, neben dem Institute Français, auf dem die Gastarbeitergroßeltern des Jungen am Wochenende gearbeitet hatten. Heute wird er seine Stunden in der U-Bahn verbringen. Ohne nach Geld zu fragen, ohne zu singen, ohne zu reden, ohne ein Spiel auf dem Smartphone zu spielen. O hört den Hunger in seinem Magen so laut schreien und denkt, dass deswegen sogar die tuschelnden Frauen ihn kurz anblicken und aufhören, über den Jungen zu reden. O überlegt, ob er aussteigen und im Gözleme-Laden frühstücken soll. Die Schlange dort ist kurz, seitdem Menschen mit mehr Geld, mehr Bildung, Bürgschaften und einem merkwürdigen Selbstverständnis in der Gegend selbstverständlich bevorzugt Wohnungen bekommen. Die Gözleme-Ladies erfuhren von einem jungen Studierenden, wieviel Miete er zahlt und wie er sich darüber freute, weil es so billig war und fortan stiegen die Gözleme-Preise mit den Mietpreisen zusammen und die Schlange wurde immer kürzer, das Lächeln der wartenden Kunden immer breiter.
Der U-Bahnfahrer, der davon träumt der Busfahrer der Buslinie 100 zu werden, kontrolliert die Bahn vom ersten bis zum letzten Waggon. »Endstation, der Ersatzverkehr fällt aus, wird nicht ersetzt. Aussteigen. Hab nicht ewig Zeit hier.« O steigt mit den Pfandflaschensammlern aus, die vormittags auf der Müllerstraße Pfandflaschen sammeln und am Nachmittag am Flughafen Tegel, um Alkohol kaufen, die Familie in den zurückgelassenen Ländern unterstützen oder um Pilgerfahrten nach Mekka finanzieren zu können.
O nimmt die Treppe in Fahrtrichtung hinten, die geradeaus zur Tramhaltestelle der einzigen Tramlinie im Westteil der Stadt führt, dann nach links zum Café mit Watson-Glühbirnen und Flaggen der WM-Länder, dem Kiosk mit Zigarren und Messern, dann nach rechts zum Dönerrestaurant Saray. Kiosk und Saray stehen sich so seit Jahren royal auf der Müllerstraße gegenüber. Auf den Treppen sieht o einen Mann in Weiß. Es ist der Syrer, der kaum Türkisch oder Deutsch kann und für wenig Geld im Folienkartoffel-Geschäft eines Deutschländers Tandoori-Brot backt. Der Deutsche zahlt dem Deutschländer wenig, der Deutschländer zahlt dem Syrer wenig und der Syrer zahlt davon seine teure Wohnung an den deutschen Vermieter aus dem Schwabenland. In diesem Bezirk haben alle so ihre Kreislaufprobleme.
Während o an dem Juweliergeschäft des Mardiner Christen vorbeiläuft, schaut o sich den Jesus-is-Lord-Imbiss, den Bismillah-Baklava-Laden, die AOK-Filiale, die Graffitis »No borders« und »Wohnraum ist keine Warte« an. Angekommen an der Ampel blickt o auf ein Gebäude mit Studierendenapartments. In Heidelberg wäre so ein Gebäude eine Hand des Stadtkörpers, auf der Müllerstraße hingegen hinterlässt es den Eindruck, ein Prothesefinger zu sein. Vollkommen im Vergleich zum Rest der Straße. Im Erdgeschoss soll laut einem Plakat am Fenster ein Bio-Supermarkt öffnen. Es ist grün. O läuft über die Kreuzung und schaut sich die restlichen Räume im Erdgeschoss an. Er blickt auf Menschen, die teilnehmende Beobachter in Wedding sein möchten, die mit Wörtern wie »echt« und »ehrlich« das Wort »arm« ersetzen. »Select a name« steht auf dem Klingeldisplay. Ein Arbeitsraum mit einer tapezierten Wand, auf dem Monstera-Pflanzenblätter abgedruckt sind. Ein Versammlungsraum mit eingerahmten Aphorismen: »You always have a choice.«, »Kindness is always free.«, »Never stop believing in yourself.«
O läuft schnell weiter, möchte das Gesehene auf dem Weg verlieren, wie Äpfel, die einem aus einer gerissenen Tüte fallen. Auf os linken Seite ist Risa-Chicken, der KFC á la halāl. Auf seiner Rechten ist der Coffee-Shop, vor dem möchtegern-open-city Psychiater ihren Espresso trinken und ihre zukünftigen Patienten beobachten. O schaut nach links zu einem Café mit einem englischsprachigen Namen, nach rechts zum Simit-Haus, der Stadtbibliothek und dem Graffiti »Hartz Vier essen Seelen auf« am Ärztehaus. O ist vor Karstadt angekommen. Jedes Mal, wenn o an dieser Kreuzung steht, schaut o auf die andere Seite der Straße und denkt an Frau Vogel. Frau Vogel kam aus der westdeutschen Provinz nach Berlin. Sie ist weder Favela noch Heidelberg. Aufgrund ihres mittelmäßigen sozio-ökonomischen Status bekam Frau Vogel nur eine Zusage für eine Wohnung in Wedding. Wenigstens sind mein Therapeut und meine Eismanufaktur fußläufig, tröstete sie sich. Bei Manufaktur-Eis lernten o und os deutschländische Freundin Frau Vogel sich zwischen Mango-Sorbet und Matcha-Eis kennen. Frau Vogel bestand darauf, die beiden auf ihrer Geburtstagsparty dabei zu haben. Frau Vogel, Herr Vogel, eine Heidelbergerin, eine Düsseldorferin und eine Frau Stern aus dem Osten saßen am Tisch mit o und der deutschländischen Freundin. Das Abendmahl von Wedding. Das Symposium der Fremden. Jeder Schluck Moscow Mule hatte die Wirkung eines Spa-Wochenendes. Das Gefühl von Wellness ging schnell zu Ende. Frau Vogel meinte: »Am Leopoldplatz steige ich nicht aus. Das ist mir zu viel Ghetto.« Sie klärte auf: »Ich meine die betrunkenen Menschen.« Die Deutschländerin fragte dann: »Was ist der Unterschied zwischen dir, die jetzt Alkohol trinkt, und denen? Ich hab’s. Du hast Geld und sie nicht.« Frau Vogel und alle anderen am Tisch wünschten sich in dem Moment Vögel zu sein, um aus der Wohnung, aus Wedding raus fliegen zu können.
O läuft weiter, vorbei am Hakiki-Döner-Stand, dem Tipster-Wettbüro und dem Job-Center, das regelmäßig frische Farbe, meistens Rot oder Braun, von Unbekannten verpasst bekam. Die nächstgelegenen U-Bahnhof- und S-Bahnhof-Stationen waren hier nach dem Bezirk benannt und stellten eine erste Grenze dar. Jene, die innerhalb des S-Bahnrings wohnten, deklarierten die Zone außerhalb des Rings als weniger angesagt. Jene, die außerhalb des Rings wohnten, wussten nichts davon. »Armes Mexiko, so nah an den USA« – bekommt bereits hier eine neue Dimension, wenn man weiter Richtung Mitte schaut. Die nächste Station der U-Bahn-Linie Sechs ist innerhalb des Rings, doch immer noch Wedding zugehörig. Als o das erste Mal mit der Bahn hier vorbeifuhr, freute er sich über das Werbeplakat eines Pharmakonzerns. Auf dem Plakat waren zwei Menschen zu sehen: ein Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin. Beim zweiten Mal freute sich o, weil der Wissenschaftler weiße Haut und die Wissenschaftlerin schwarze Haut hatte. Beim dritten Mal, als o davon ausging, dass das Bild ihm keine große Freude bereiten würde, wurde er überrascht. Diesmal fiel o auf, dass die schwarze Wissenschaftlerin dem weißen Wissenschaftler etwas zu erklären schien. Beim vierten Mal entschied o, das letzte Mal auf das Plakat geschaut zu haben. Die schwarze Wissenschaftlerin hielt Baumwolle in der Hand und schien ihren Kollegen – beide mit Blick Richtung Baumwolle, sie mit offenem und er mit geschlossenem Mund – darüber aufzuklären. Die U-Bahn fährt wieder ab dieser Station. O läuft trotzdem bis zur nächsten. Die Satellitenschüsseln, die Panke, die unter der Mettalbrücke vor dem Häuserblock fließt, passt noch zum Wedding. Im Gegensatz zur Fashion Week, die hier jährlich im Erika-Hess-Eisstadion stattfindet und exklusiv für Menschen ist, die in Mitte schlafen und sich so kleiden wie Kinder im Wedding angezogen sind, die als letztes Geschwisterkind die Kleidung der Älteren bekommen. Gated Communitys, die an Südafrikaurlaube erinnern, Häuser, über die Kinder von Stararchitekten behaupteten, ihre Väter hätten sie gebaut und Kinder von Weddinger Bauarbeitern, ihre Väter hätten sie gebaut, reihen sich an Häuser, in denen es Vegetarier und Jagdvereine Wohnungen als Mieter gibt. Die REWEs und Edekas mit prostitutionsartigem Smalltalk führenden Verkäufern, die von emotional verwahrlosten Kunden besucht werden, ebenso wie von heimlichen Paybackpunktesammlern, quetschen sich in die Chausseestraße ein. Eine Form von Kolonialismus erreicht die Straße, auf der Gesundheit, neben Reisen, die Hauptsäule des guten Lebens ist. Ein Supermarkt-LKW hält vor dem denkmalgeschützten Haus an. O nimmt heimlich einen Bergpfirsich aus der Delivery-Box. O isst den Bergpfirsich schnell auf, weil die Kinder, die im überteuerten Hostel gegenüber wohnen, sich frisches Obst nicht leisten können und o auf dem Bahnhof anstarren würden, um sich besser vorstellen zu können, dass sie diesen Bergpfirsich in dem Moment essen. Auf dem Bahnhof Schwartzkopffstraße steht o neben zwei Frauen, die sich Bergpfirsiche leisten können und sich auf Englisch unterhalten. Vermutlich lebt die eine Frau seit Jahren in Deutschland und hat nie Deutsch lernen müssen, da alle um sie herum, bis auf die Mitarbeiter der Ausländerbehörde, Englisch gerne als ihre zweite Muttersprache betrachten. Eine dritte Frau, die mit o die ganze Strecke bis hierherlief, läuft an den beiden Frauen vorbei und schreit »Gringo.« Während die deutsche Frau tröstet: »Darling, don’t bother, they call