FLEXEN. Mirjam Aggeler

FLEXEN - Mirjam Aggeler


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Aussicht, der wird höchstens manchmal angesprochen, hallo, du etwas aussichtsloses Werkzeug!, ach, oder er wird einfach anspruchslos gleich mitgenommen, ohne zu fragen, sicher ist sicher. Es ist ein ständiges Zurückgerissenwerden in diesen Körper, der nicht in die Geschichte passt. Nur als Unterwerfung. Was nicht passt, wird passend gemacht. Und diese Geschichte einer Unterwerfung ist eine schöne Geschichte.

      Wenn ich diesen Körper endlich nur als Frage stellen könnte, ohne Kontext, ja, wenn ich diesen Körper so als Frage stellen könnte, dass ihm die Erinnerung endlich nichts mehr ausmacht. Den Körper so in Frage stellen, dass er die Verwechslung erlaubt – Und was ist das für ein Anfang?

      Egal.

      Du läufst durch die Stadt, die Stadt ist eine von vielen, du schließt kurze Bekanntschaften, du schließt lange Bekanntschaften, du fickst, du redest, du unterhältst, du machst ein ziemlich gutes Gefühl, du dankst und dir wird gedankt, du bist richtig jämmerlich, egal, du machst immer weiter, du lächelst, du läufst durch den Tag, du arbeitest, du entspannst, du bist ziemlich entspannend, du schläfst, du heulst, du kommst nirgendwohin, jetzt bist du müde, egal, jetzt bist du müde, du stehst morgens auf, du schläfst oder auch nicht, liebst oder auch nicht, du benutzt deinen Kopf oder auch nicht, du benutzt ihn, um dich zu verstellen, und jetzt geht’s vorwärts: mehr Tempo mehr Tag mehr Ordnung, du kontrollierst, du redest, du hast nichts zu sagen, du weinst ein bisschen, weil dir sonst nichts einfällt, du redest, du machst immer weiter, draußen die Welt, die nicht einbricht, die nie in dich einbricht, du bleibst intakt, du redest, das ist nicht meine Stimme. Egal. Wir stehen im Licht, Grenzen gezogen, andre Grenzen ausgelöscht, in diverse Leben eingebrannt, Namen gegeben und genommen, Wörter übergeworfen: Jetzt geht’s vorwärts!, und meine Stimme, nein, jetzt geht’s vorwärts!, meine Stimme, nein, jetzt geht’s vorwärts, wir / stehen im Licht, und das Licht ist ziemlich hell und ziemlich gleißend und der Körper, jetzt ja jetzt!, läufst die Straße runter, von einer in die andre, von einer Geschichte in die andre, wir / stehen im Licht, und das Licht ist ziemlich hell und ziemlich, ja, und der Körper, aber wenn ich, nein, wenn ich –, und du bist müde, egal, bist immer müde, egal egal, und das ist die Geschichte: Alles geht immer weiter, aber das ist nicht meine, nein, aber, und das ist die Geschichte: Wir finden statt und dann finden wir statt, nein, aber, und das ist die Geschichte: Das ist nicht besonders viel, egal, jetzt geht’s vorwärts!, das ist nicht meine, nein, aber nein, jetzt geht’s, ja! Und das ist die Geschichte: Du bist immer müde, nein und das ist die Geschichte: Alles geht immer weiter, nein das ist nicht meine, nein das ist nicht meine nein das ist nicht meine nein nein nein nein nein

      Einmal aufhörn, ja, das wäre schön.

       Katia Sophia Ditzler

       Jakarta

      Jakarta I

      Das Bildungsministerium hatte zu viele Steuereinnahmen und investierte sie in Ausländer/innen, die für ein Jahr ihre Probleme zu Hause gegen indonesische Probleme eintauschen wollten. Die Mitstipendiat/innen aus Schwellen- und Entwicklungsländern studierten die indonesische Sprache, die aus dem Westen studierten irgendeine Kunst, denn was ist schon ein Jahr deines Lebens, wenn dein Leben gesichert ist? Wir würden Musik, Schattenpuppentheater und Tanz studieren. Als wir ankamen, war der Himmel grau und dramatisch, die Flughafenlichter waren Diamanten. Es dämmerte.

      Während einer der viel zu langen Willkommensveranstaltungen sollten wir aufstehen und die indonesische Nationalhymne singen. Der Text wurde auf eine Leinwand projiziert. Ich blieb sitzen und sang die sowjetische Hymne, aus Spaß. Die Litauerin und die Ukrainerin neben mir waren nicht begeistert. Du und ich flohen in unser Zimmer, verschliefen den Rest des Orientierungsseminars, schauten im Fernsehen japanische Pathologiekrimis und hatten Sex. Die Kamera zoomte immer rein und raus, auf die geschockten Gesichter der Gerichtsmedizinerinnen. Wir schlichen uns raus und gingen spazieren. Es gab in der Umgebung nichts, ein paar Essensstände, Motorräder, die viel zu nah vorbeirasten. Die Leute schrien uns Wörter wie bule oder londo hinterher, die man zur grenzbeleidigenden Bezeichnung europäisch aussehender Menschen verwendet. Man musste ehrlich mit sich selbst sein: Man konnte niemals mit Leuten, von denen man sich zu sehr unterschied, sei es charakterlich, sei es finanziell, auf einer Stufe sein. In solchen Konstellationen gibt es aufgrund des Gefälles niemals echte Freundschaften. Wir würden in zwei verschiedenen, nah beieinander liegenden Städten in Zentraljava wohnen. Alles war voller Verheißung.

      Im Westen Jakartas gibt es ein Diorama, in dem mit Kunstharz­figuren dargestellt wird, weshalb man 1965 unbedingt echte und angebliche Kommunist/innen sowie ethnische Chines/innen umbringen musste. Es ist dort gelegen, wo am 30.09.1965 die sieben Generäle umgebracht worden sind, was dann Suharto als Vorwand benutzte, um Sukarno loszuwerden, sich an die Macht zu putschen und Säuberungsaktionen durchzuführen. Ich versuchte, dich zu überreden, dorthin zu fahren, aber dafür war keine Zeit. Man brachte uns zum Flughafen. Ein Mann stand auf einer Friedhofsmauer, starrte auf die Straße wie ein König, obwohl sein Blick durch die Äste eines Baums behindert wurde. In den Flughäfen hingen Farbtafeln zur Urinselbstdiagnose. Ich diagnostizierte mich nicht. Wir flogen in verschiedenen Flugzeugen in unsere verschiedenen Städte. Es war September.

      Jakarta II

      Ich war zutraulich. Deshalb verlangte der Motorradtaxist einen anderen Preis, drei Mal so hoch wie abgemacht, vier Mal so hoch wie angebracht. Ich protestierte, er schrie, bezog die Passanten mit ein, beschimpfte mich. Ich lenkte ein.

      Mein Hostel war in der Altstadt. Ich freundete mich mit einem Jungen aus meinem Zimmer an. Er war gerade aus Dublin angekommen und hieß Ryan/Eoin/Aidan mit Vornamen und Murphy/O’Sullivan/Kelly mit Nachnamen. Mein Ethnographinnenherz war glücklich. Er hatte einen Literaturpreis gewonnen, wollte Gedichte über Orang-Utans und die Zerstörung des Regenwalds schreiben. Alle heulten über Palmöl, ich sagte, dass es vielleicht keine Alternative zu Palmöl gäbe, weil Kokosöl aus Kokospalmen gewonnen wird und Kokospalmen sogar noch mehr Platz, gerodeten Regenwald und traurige Orang-Utans brauchen als Ölpalmen. Am liebsten hätte ich eine Fernsehsendung, in der ich Umweltaktivismusmythen auf süffisant-arrogante Weise aufklären würde. »Hey Miss…ter Miss…ter«, nervten die Leute am Straßenrand, als könnten sie sich nicht für ein Geschlecht entscheiden. Wir stolperten. Die Bürgersteige ergaben keine gerade Summe. Meistens gab es überhaupt keine Bürgersteige, wenn doch, dematerialisierten sie sich an den ungünstigsten Stellen oder waren ein schwarzes Loch, ein Portal zu den unendlichen Weiten der überforderten Kanalisation. Ein junger Amerikaner, Kai, war schon monatelang in diesem Hostel. Hatte eine Easy Listening-Band gegründet mit positiven, motivierenden, lebensbejahenden Texten. Er bat uns um Stichwörter, mit denen er dann positive, motivierende, lebensbejahende Liedtexte über die immer gleichen vier Akkorde improvisierte. Ich ließ ihn positive, motivierende, lebensbejahende Liedtexte über Kätzchen mit Syphilis und Hundewelpen mit Gonorrhö improvisieren, was ihm gelang. Am Tag darauf gingen wir nach Chinatown. Ich kaufte einige kleine Wachteln aus einem überfüllten Käfig frei, für je 2000 Rupiah. Der Verkäufer gab sie mir in einer braunen Papiertüte, sie sahen aus wie sich windende Karamellbonbons. Ich ließ sie im chinesischen Tempel frei. Sie waren zu benebelt von der Freiheit, die streunenden Katzen fingen die verwirrten Tiere sofort, brachen ihnen das Genick, zerkauten sie. Sie wussten, was sie taten, und sie waren zu räudig und hautkrank, als dass ich irgendetwas mit ihnen zu tun haben wollte. Die Familie Kais stammte aus der gleichen Stadt wie Mao Zedong. Weil es chinesisches Neujahr war, stellte er ein paar Räucherstäbchen auf. Ich wollte ins Propagandadiorama fahren, vergaß das aber. Auf der Straße malte einer Porträts von Osama bin Laden. Wir skypten, während ich unterwegs war, ich zeigte dir die Stadt.

      Der Süden von Jakarta war nachts verwunschen, voller maligner Pflanzen und gebogener Straßen. Ich ging zu einem Poetry Slam. Eine Bekannte trat auf, sie war halb Sizilianerin, halb Britin aus London. Vor einigen Jahren war sie nach Südafrika gezogen, wo sie der malaiischen Minderheit »deren Kultur« beibrachte.

      Deshalb lernte sie indonesische Tänze. Zehn Jahre zuvor war sie aus ihrer Gewaltehe geflohen, zum Islam konvertiert, lebte seitdem zölibatär. Sie sang ein Lied darüber, dass Allah ihr ein Schlaflied singen und sie fliegen lehren solle. Ich lernte eine berühmte Oberklassendichterin kennen. Die Dichterin war sehr hübsch, ihre Tochter auch,


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