FLEXEN. Mirjam Aggeler

FLEXEN - Mirjam Aggeler


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Ich schneide mit ihm eine Kerbe in das ursprüngliche Verständnis vom Umherwandeln in Städten. Ich dehne den Begriff des Flanierens aus, so weit wie er auch faktisch ist. Mein Blick ist manchmal ins Detail verliebt, manchmal bohrend, stechend,manchmal lässig, verträumt oder sexy, manchmal schnell und hastig, langsam und besonnen. Manchmal knallhart.

      Braucht man dafür ein neues Wort? Muss es wirklich das Flexen sein? Ja, muss es. Denn das, was ich mache, ist nicht einfach nur ein nettes Herumspazieren, ein Lustwandeln, eine Selbstverständlichkeit. Ich bin noch kein Teil einer Tradition, es gibt von mir noch kein Bild mit Spazierstock und Zylinder auf den großen Boulevards, keine Literaturgeschichte. Wenn ich mich in Städten bewege, heißt das: Aufpassen. Oder es heißt: Gesehen werden. Oder: Vollkommen unsichtbar sein. In jedem Fall wurde meine Stimme bis heute zu selten angehört und hat zu selten die Seiten von Büchern gefüllt. Flexen heißt, mich dort zu bewegen, wo ich nicht vorgesehen bin und etwas tun zu wollen, was für mich erst einmal als etwas Ungewöhnliches gilt. Deswegen flexe ich.

      Meine Präsenz ist nicht ungefährlich und einfach für mich, fraglos akzeptiert wie sie es für die traditionellen Flaneure ist. Auch darum stelle ich hier meine Kraft zur Schau, die ich brauche, um mich im öffentlichen Raum zu bewegen. Flexen, es bedeutet all das. Das Wort Flâneuseurie gibt es nicht, in keinem Wörterbuch. Mich aber gibt es. Ich bin hier. Die begriffliche Annäherung von Flexen und Flâneuserie, die ich euch auftische, ist nicht zufällig. Sie zeigt die Anstrengung und die Vielschichtigkeit, die sich hinter meinem Gehen im urbanen Raum verbirgt.

      Wie werde ich gesehen, wenn ich die Wohnung verlasse, wenn ich im Supermarkt bin, in der Straßenbahn? Ich bin weder besonders auffällig, noch unauffällig. Im Vorbeigehen falle ich schnell unter den Radar der anderen Blicke. Manchmal bleiben Blicke an mir haften wie gebannt, zu oft. Ich haste nicht. Ich habe kein Ziel. Ich stolpere durch Straßen, breit und gigantisch, schmal und schattig. Mich treibt die Neugier, die Lust am Wandeln, das Alleinsein mit der Stadt. Es ist mein Raum. Er gehört mir wie er jeder Person gehört, die sich in ihm bewegt. Das passt nicht allen. Ich gerate ins Blickfeld. Ich störe. Ich habe Lust am Stören, und das kann ich schon durch meine reine Anwesenheit. Es war nicht vorgesehen, dass ich hier bin und dort. Wo ich es sein kann, wurde es von mir erkämpft. Ohne Anstrengung ging es nie. Mir wurde gesagt, es sei zu gefährlich, bleib zu Hause. Bleib drinnen, da wo es sicher ist. Nur bedeutet drinnen sein nicht gleich Sicherheit und draußen sein nicht zwangsläufig Freiheit. Aber es kann Freiheit werden, wenn ich präsent sein kann, wo ich präsent sein will, auch dort, wo niemand außer mir das möchte. Wenn ich laut sein kann oder unbemerkt gehe, auf den Asphalt spucke und alles überall, zu jeder Zeit und ohne Einschränkung tun kann. Mir ist bewusst: Das ist auch ein Privileg, das ich mir erkämpfen kann. Es gibt Dinge, die es unmöglich machen, Flâneuse* zu sein. Zum Beispiel nur in bestimmter Kleidung und in Begleitung rausgehen zu dürfen oder wenn es sich generell nicht gehört, sich Zeit dafür zu nehmen, umher zu gehen und die Umgebung anzuschauen. Das passiert hier und anderswo. Manchmal durch gesetzliche Verbote, manchmal einfach durch gesellschaftliche Konventionen. Es kann ein abfälliger Kommentar sein, wenn ich meinen liebsten Minirock trage, Beleidigungen, wenn meine Hautfarbe für einige nicht ins Stadtbild passt, ich zu männlich oder weiblich aussehe. Es können aber auch Polizeikontrollen und Strafen sein. Berührungen, ungewollte Küsse, Verfolgungen, unangenehme Blicke, die totale Ignoranz. All das hat nur eine Botschaft: So in der Stadt unterwegs zu sein – das solltest du nicht.

      Mir fallen nur wenige Autor*innen ein, die über mich geschrieben haben – Virginia Woolf, Jean Rhys, George Sand, Frederika Amalia Finkelstein, Teju Cole, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich bin sicher, dass es mehr gab, aber ihre Stimmen wurden und werden von der Stimme des traditionellen Flaneurs, weiß, heterosexuell und männlich, überdeckt. Hier erhebe ich nun meine eigene Stimme und mache sie lesbar. Ich spreche nicht mit gespaltener Zunge. Meine Zunge ist von Grund auf vielstimmig.

      Ich lebe in Städten. Sie sind mein Zuhause. Der urbane Raum ist mein Alltag. Ich bewege mich durch ihn wie durch mein Wohnzimmer. Ich kenne seine Ecken und Kanten, seine Kuschelorte. Ich kenne die Straßen, viel befahren, viel begangen, auch von mir. Er ist Teil meines Denkens, meiner Welt. Aber wo sind meine Perspektiven in der Literatur? Wo sind die Blicke der Frauen*, der People of Colour, der Queeren? Mir fehlt das auf Papier geschriebene Wort. Mir fehlt meine Stadterfahrung in den geschriebenen Geschichten, in den geschriebenen Figuren. Im geschriebenen Wort von Frauen*, People of Colour und queeren Menschen. Um dieses Wort auf Papier zu bringen, nachlesbar zu machen, gibt es dieses Buch mit mir und über mich. Flâneusen* schreiben Städte. Ich schreibe meinen Blick auf die Stadt und schreibe damit die Stadt neu, definiere sie neu im Geschriebenen, mache mein Erleben sichtbar. Die verschiedenen Erlebnisse, Blicke und Momente wachsen zu einem Chor an Stimmen; jede ist einzigartig und alle schreiben zusammen die Stadt.

      In jedem der Texte, die in diesem Buch versammelt sind, findet sich eine neue Facette von mir. Ich bin die Mutti, die den Kinderwagen schiebt, Beobachterin der Straße. Ich bin der Mann, der seinen Vater verloren hat. Ich bin die Frau, die auf der Straße trödelt aus Protest. Ich bin die Frau, die protestieren geht, deren Füße im Alltag Mahnmale berühren, die anhält und darüber schreibt. Ich bin die­jenige, die geschunden wurde und nachts durch die Straßen geht, um sich wieder sicher zu fühlen. Ich laufe durch Gebiete, in denen Krieg herrscht. Ich bin diejenige, die den Krieg in ihren Erinnerungen mit sich trägt. Ich höre genau hin. Ich beobachte unsere Räume in Zeitlupe von der Shoppingmall bis zu deinem Hinterhof. Ich verschlinge jeden einzelnen Pflasterstein. Durch mich läuft der Rhythmus der Stadt. Ich bin die Bouncerin im Club deiner Wahl. Ich wandle zwischen den Geschlechtern und ihren Vorstellungen, auf der Suche nach Sex, auf der Suche nach nichts Bestimmten, ich bin überall auf der Welt und laufe und laufe und laufe. Und ich schreibe darüber. In Romanen, in Gedichten, in Reportagen, in Essays. Ich bin da. War ich schon immer. Ich existiere. Und ich möchte gesehen werden. Meine Anwesenheit soll dokumentiert sein. Ich möchte euch einladen, mich auf meinen Streifzügen zu begleiten, die Städte mit meinen Augen zu sehen, selbst auf die Straße zu gehen und darüber zu schreiben, was ihr denkt und fühlt, was ihr seht und hört.

O, jetzt geht’s vorwärts!

       Gerhild Steinbuch

       Friendly Fire

      Ist es das jetzt, das sogenannte Draußen? Oder sind wir jetzt so weit drin im Ich, dass alles was da sonst noch sein kann, ohnehin egal ist? Egal. Jetzt geht’s vorwärts. Jetzt fangen wir an, jetzt brechen wir auf, jetzt legen wir los, jetzt jagen wir los, jetzt greifen wir an, jetzt greifen wir zu, jetzt drücken wir zu, jetzt treten wir zu, jetzt treten wir vor, jetzt treten wir auf. Das war einfach! Jetzt stehen wir im Licht, und das Licht ist ziemlich schön und ziemlich gleißend, ja schon schön, wenn man eine Geschichte hat, die so groß ist, dass alles, was man selbst nicht ist, darunter verschwindet. Wir erzählen uns so lange in eine Geschichte hinein, bis die sogenannte Wirklichkeit dahinter nicht mehr auffällt, bis sie nicht mehr ins Gewicht fällt, wir erzählen uns so lange in eine Geschichte hinein, bis alles, was da einmal fremd war, unter uns verschütt gegangen ist. Gibt es das noch, das sogenannte Draußen? Egal. Jetzt legen wir los, jetzt fegen wir los, jetzt fangen wir an, jetzt packen wir an, jetzt packen wir zu, jetzt kommen wir an. Nein, das war gelogen. Denn ankommen, tja, das ist etwas, das wir ohnehin nicht können. Im Leben? Nein, dort auch nicht. Und in der Liebe? Nein, dort auch nicht. Und im Körper? Nein, dort auch nicht. Und in der sogenannten Wirklichkeit? Nein, dort ganz bestimmt nicht. Wir wandern immer weiter, wir machen immer weiter, wir ziehen immer weiter, wir gehen immer weiter, wie die Geschichte weitergeht, das Leben das Reden das Vorwärts, wir fangen an, wir fangen immer von vorne an.

      Und das ist die Geschichte: Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus, um aber doch immer leider nur zu mir zurückzukommen, na, besonders viel ist das ja nicht. Fremd zieh ich also wieder einmal aus, und nochmal und nochmal, um in der Fremde auf was anderes als mich zu treffen. Auf das Fremde vielleicht? Nein, vielleicht eher nicht, denn die Angst ist ein treuer Geselle, wie das Glück einer ist, die schieben sich vor das, was stattfinden könnte, nein, was nur stattfinden kann, wenn ich endlich nicht mehr da bin. Ja, ich müsste selbst den Weg mir weisen, in dieser Dunkelheit, nein, in diese Dunkel­heit hinein, bis dorthin wos dann nicht mehr weitergeht, wo es mit mir dann nicht


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