Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa

Milchfrau in Ottakring - Alja Rachmanowa


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Kommunalfriedhof haben sie und die Ihren ihr Grab.

      Wer war diese Alja Rachmanowa?

      Perm ist eine Industriestadt im mittleren Ural und zählt heute über eine Million Einwohner (zwischen 1940 und 1957 war sie auf den Namen eines der Mächtigsten der sowjetischen Herrscherriege umgetauft: Molotow). Hier kommt am 27. Juni 1898 Alexandra Galina Djuragina zur Welt – das Pseudonym Alja Rachmanowa, unter dem sie über dreißig Jahre später berühmt werden wird, legt sie sich im österreichischen Exil zu, um die in der russischen Heimat Verbliebenen ihrer Sippe nicht zu gefährden.

      Wohlbehütet und in großbürgerlichem Luxus wächst sie auf, ihr Vater ist ein angesehener Arzt, um den Elementarunterricht kümmert sich die Mutter – eine gebildete Frau, die es ihr Leben lang beklagen wird, keine Universität besucht zu haben. Dafür wären zu jener Zeit nur Moskau und St. Petersburg in Betracht gekommen, und die 2000 Kilometer Anreise – zum Teil noch zu Pferd! – waren einem auch noch so emanzipierten Mädchen schwerlich zuzumuten.

      Noch bevor Alexandra mit achtzehn das Gymnasium verläßt, beginnt sie etwas, woran sie in ihrem gesamten ferneren Leben festhalten wird: Sie führt Tagebuch. Und hat dabei bald alle Hände voll zu tun: Mehr als andere Familien sehen sich die Djuragins in die politischen Umwälzungen jener Tage hineingezogen. Oktoberrevolution, Bürgerkrieg, Klassenkampf, der Terror der »Tscheka« (der geheimen Staatspolizei). Zweimal wird Alexandras Vater von den Bolschewisten verhaftet und eingesperrt, als gebrochener und vor der Zeit gealterter Mann kehrt er zu seiner Familie zurück, die in der Zwischenzeit aller ihrer Habe enteignet ist und nach Sibirien flieht.

      Hier, in Irkutsk, erscheinen ihnen die Bedingungen für einen Neuanfang günstiger als in Perm: Alexandra läßt sich an der Universität einschreiben, studiert (statt ihres ursprünglichen Berufswunsches, der Malerei) Psychologie und Literaturwissenschaft, verdient sich als Assistentin und Bibliothekarin ihr erstes Geld.

      Auch im Privatleben scheint’s bestens zu klappen: Alexandra verliebt sich in einen sieben Jahre älteren Mann, der wie sie eine wissenschaftliche Laufbahn anstrebt, jedoch sein Studium – kriegsbedingt – erst mit mehrjähriger Verspätung aufnehmen kann. Am 7. Februar 1921 wird geheiratet, im Jahr darauf kommt ein Kind zur Welt: Sohn Jurka.

      Doch so vollkommen das junge Eheglück scheint – über der Verbindung liegt ein dunkler Schatten: Alexandras Mann ist Österreicher, also ein Fremdling aus ehemaligem Feindesland, vor kurzem erst aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Weiteres Handikap in der inzwischen von den Bolschewisten ausgerufenen Sowjetunion: Arnulf Hoyer entstammt einer Familie von Aristokraten, ist also in den Augen der neuen Machthaber erst recht ein Klassenfeind. Daß er inzwischen perfekt Russisch spricht, hilft ihm wenig: Ende 1925 wird die dreiköpfige Jungfamilie ohne Angabe von Gründen aus der Sowjetunion ausgewiesen, ohne Papiere und ohne alle Habe über die polnische Grenze abgeschoben. Und vor allem: ohne erkennbares Ziel. Das stenographierte Buchmanuskript, an dem Arnulf die letzte Zeit gearbeitet hat, wandert schon zuvor in die Flammen: Es könnte ihn glatt Kopf und Kragen kosten.

      235 Schilling Bargeld haben sie in der Tasche, als Arnulf, Alexandra und der knapp vierjährige Jurka am 17. Dezember 1925 in Wien aus dem Zug klettern. Sie wissen sehr genau, daß sie auch hier, in Arnulfs Geburtsheimat, einen schweren Weg vor sich haben: Für Intellektuelle wie sie ist im selber von Arbeitslosigkeit und Not gebeutelten Österreich dieser Jahre kein Platz.

      In einem billigen Hotel in der Laxenburgerstraße verbringen sie die erste Nacht, dann folgen zwei Monate in einem der Barackenquartiere im sogenannten »Negerdörfel«: einem von der »Gesellschaft für Notstandswohnungen« im Bezirk Ottakring errichteten Auffanglager für Obdachlose mit Kleinkindern.

      Nächster Schock: Mit den in Rußland abgelegten Prüfungen kann Arnulf Hoyer in Österreich nichts anfangen: Er muß aufs neue die Universität beziehen und seinen gesamten Studiengang wiederholen. Und wovon wird man in der Zwischenzeit leben?

      Da kommt Alexandra bei einem der gemeinsamen Streifzüge durch die Stadt der rettende Einfall, es mit dem Betreiben eines kleinen Milchladens zu versuchen, und bei einem seiner alten Freunde aus den Tagen der Kriegsgefangenschaft gelingt es Arnulf wahrhaftig, das dafür erforderliche Startkapital locker zu machen. Mit einem Darlehen von 3500 Schilling ausgerüstet, erwirbt man ein leerstehendes Geschäft in der Hildebrandgasse im Bezirk Währing; die dazugehörige Ein-Zimmer-Wohnung gibt der Familie das nötige Dach überm Kopf. Und während Arnulf sein Universitätsstudium fortsetzt, steht Alexandra hinter dem Verkaufspult und versorgt die Anrainer mit Butter und Milch, mit Käse und Brot.

      Als Ausländerin – Alexandra ist nicht nur wegen ihres tatarischen Aussehens ein Fremdkörper, sondern spricht auch nur gebrochen Deutsch – wird sie angefeindet, schikaniert, betrogen. Und zwischendurch auch noch von Wiener Emissären des sowjetischen Geheimdienstes observiert. Aber immerhin: Die kleine Flüchtlingsfamilie aus Sibirien hat ihr leidliches Auskommen. Und vor allem: Die anderthalb Jahre vom Februar 1926 bis zum Juli 1927, die die Akademikerin Alexandra Hoyer geborene Djuragina, als Milchfrau durchsteht, tragen literarische Früchte: Im Zuge der noch 1927 erfolgenden Übersiedlung in Arnulfs Heimatstadt Salzburg kommt man mit dem am selben Ort ansässigen Pustet-Verlag in Kontakt, der sich – ebenso mutig wie weitsichtig – zu einem Projekt bereitfindet, das ab 1931 auf dem österreichischen und bald auch auf dem internationalen Buchmarkt Furore machen wird: Alexandras Tagebuchaufzeichnungen, von ihrem Mann ins Deutsche übersetzt, werden gedruckt! Das Material wird auf drei Bände aufgeteilt: Auf »Studenten, Liebe, Tscheka und Tod« folgen »Ehen im roten Sturm« und »Milchfrau in Ottakring«.

      Besonders der Schlußband der Trilogie wird ein Sensationserfolg. Der österreichischen Erstausgabe folgen Übersetzungen in 21 Sprachen, das Autorenpseudonym Alja Rachmanowa wird zum Markenzeichen, Leser in aller Welt (außer in der Sowjetunion) bewundern die explosive Sprachkraft und naive Frische, mit der hier ein heroisches Frauenschicksal dokumentiert ist, und schöpfen daraus Trost und Kraft für die Bewältigung des eigenen Existenzkampfes. Friedrich Hebbels berühmtes Wort »Dies Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält« – hier findet es seine greifbare Bestätigung, exemplifiziert an der Leidens- und Überlebensgeschichte einer in der Heimat ihres Mannes Wurzel schlagenden Neubürgerin, die sich nicht nur nicht unterkriegen läßt, sondern, gestärkt von ihrem christlichen Glauben, hoffnungsvoll in eine mehr als ungewisse Zukunft blickt.

      Das ist der Stoff, aus dem die Träume sind – und mögen es über weite Strecken auch die ärgsten Alpträume sein: 600000 Exemplare sind bis zum Jahr 1938 von der »Milchfrau in Ottakring« abgesetzt. Die Hoyers könnten also bequem von den Tantiemen leben. Doch das widerspräche ihrem Lebensstil: Arnulf hat endlich auch eine Stelle als Gymnasiallehrer gefunden, Alexandra eine Dozentur für Kinderpsychologie. Daneben setzt sie mit stupendem Fleiß ihre Aktivitäten als frischgebackene Erfolgsautorin fort, schreibt Romanbiographien über die Großen ihrer alten Heimat Rußland, über Tolstoj und Dostojewski, über Puschkin und Tschechow, über Turgenjew und Tschaikowskij, über die Mathematikerin Sonja Kowalewski. Ihr Buch »Die Fabrik des neuen Menschen« wird als »bester antibolschewistischer Roman der Gegenwart« mit einem französischen Akademiepreis ausgezeichnet.

      Alja Rachmanowas Salzburger Jahre sind also gute Jahre – vielleicht überhaupt die glücklichsten ihres Lebens. Dennoch: Neue Schicksalsschläge bleiben auch jetzt nicht aus. Mit dem Anschluß von 1938 kommt der österreichische Kulturbetrieb unter nationalsozialistische Kuratel: Die tiefreligiöse Exilrussin fällt ihrer engen Kontakte zum katholischen Klerus wegen in Ungnade, ihre Bücher werden aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt. Das hindert die neuen Machthaber jedoch nicht, dieselben Werke, die auf einmal nicht mehr fürs eigene Volk taugen, in späteren Jahren, als sich das Debakel von Stalingrad abzeichnet, ins Russische rückübersetzen zu lassen und ohne Zustimmung der Autorin als antibolschewistisches Propagandainstrument an der deutschen Ostfront einzusetzen. Und was Alexandra Hoyer alias Alja Rachmanowa noch härter trifft: Ihr zur Deutschen Wehrmacht eingezogener Sohn Jurka fällt am 1. April 1945 beim Abwehrkampf gegen die vorrückende Rote Armee im Raum Wiener Neustadt. Der Dreiundzwanzigjährige, Alexandras einziges Kind, hätte wie ihr Vater Arzt werden sollen: als sie nach Kriegsende wieder zur Feder greift, wird ihr erstes Buch dem Andenken an Jurka gewidmet sein: »Einer von vielen«.

      Doch der Schreibtisch,


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