Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa
Die haben es dort gemacht, wie es sich gehört; sie haben alle Bourgeois aufgehängt und die Proletarier machen, was sie wollen. Wir sind Kommunisten und können es nicht mehr erwarten, bis auch bei uns die Sowejtrepublik kommt. Aber dann werden wir schon dafür sorgen, daß allen Bourgeois die Gurgel durchgeschnitten wird! Alle müssen sie krepieren, alle!«
Während sie sprach, glänzten ihre Augen vor Wut und ihr junges, hübsches Gesichtchen nahm den Ausdruck tierischen Blutdurstes an.
»Nun, erzählen Sie mir doch etwas über Rußland!« bat sie. »Der Gedanke an Rußland ist das einzige, was uns jetzt aufrecht erhält. Das ist der einzige Fleck auf der Erde, an dem der Mensch noch atmen kann!«
»Wann fahren Sie wieder nach Rußland?« mischte sich jetzt der Tierarzt selbst ins Gespräch. »Könnten Sie uns nicht irgendwie helfen, daß wir auch nach Rußland kommen? Sie haben sicher Verbindungen. Wohin muß man sich da überhaupt wenden, wenn man nach Rußland will?«
Ich war starr vor Staunen. Das sind die Leute in einem freien Lande! Bei uns träumt alles von Westeuropa und seiner Freiheit, und hier sehnen sie sich nach Sowjetrußland! Endlich gab mir der Tierarzt folgenden Rat:
»Packen Sie Ihre Sachen zusammen und fahren Sie, solange Ihr Visum noch gilt, zurück nach Rußland. Hier werden Sie keine Arbeit finden. Hier leben nur die Kapitalisten gut, alle anderen müssen vor Hunger sterben. Sehen Sie zum Beispiel mich an: Im Verlaufe eines ganzen Monats habe ich nichts gehabt als einmal eine Katze mit einem verdorbenen Magen. Sagen Sie, kann eine ganze Familie von einer einzigen kranken Katze leben? Ich vermiete das Zimmer; können wir aber mit siebzig Schilling leben? Nein. Also sagen Sie, was man da machen soll? Da kann man eben nur Kommunist sein. Allen Bourgeois muß die Gurgel abgeschnitten werden, anders kann es nicht besser werden!«
25. DEZEMBER 1925
Eine unheimliche Stille herrscht in der Wohnung. Die Familie des Tierarztes sitzt schweigend in ihrem Zimmer ...
»Es muß einen Ausweg geben«, sagte ich zu Otmar. »Sehen wir einmal die Zeitung durch!«
Ich nahm das Zeitungsblatt, nach dem wir unser Zimmer gesucht, in die Hand.
»Hier, eine ganze Menge Ankündigungen! ... Sieh einmal: ›Bei Fleiß und Energie reichliches Monatseinkommen! Notenvertrieb Vienna.› Schau, da könnten wir etwas versuchen! Gehen wir gleich dorthin!«
28. DEZEMBER 1925
Das Erarbeiten des »reichlichen Monatseinkommens« besteht in folgendem: Man bekommt Noten, von deren Erlös man sich einen gewissen Prozentsatz behalten darf. Man muß von Haus zu Haus gehen, um die Noten anzubieten; aber niemand kauft sie, weil sie nichts wert sind.
Um zu »erarbeiten«, wie Jurka sagt, machten wir uns alle drei auf den Weg. Ich wollte Otmar um keinen Preis allein lassen. Was hätte ich auch zu Hause anfangen sollen? In der Wohnung ist es so kalt wie draußen, denn ebensowenig wie unsere Vermieter haben wir Geld, um Kohlen zu kaufen. So ging Otmar ein paar Häuser ab, und wir warteten immer am Eingang auf ihn. Aber alles war umsonst, kein einziges Heft konnte er verkaufen. Müde, hungrig und erfroren kehrten wir endlich nach Hause zurück.
»Werden wir denn jetzt jeden Tag ›erarbeiten‹ gehen?« fragte Jurka besorgt. Wenn er sich nur nicht erkältet!
Nachdem wir für einen Monat das Zimmer vorausbezahlt, bleiben uns wenig mehr als hundert Schilling. Was werden wir beginnen? Was wird aus uns werden?
5. JÄNNER 1926
Was ich gefürchtet habe, ist eingetreten. Jurka ist krank, er hat Fieber und phantasiert. Otmar läuft allein in der Stadt umher, ich sitze bei dem Kinde. Wir haben etwas Kohle gekauft und eingeheizt. Aber diese kleinen Kachelöfen, wie man sie hier in Österreich hat, geben keine Wärme.
Ich kann nicht schlafen. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, daß hier in Wien die ganze Nacht hindurch gefahren wird. Ja, ist denn hier überhaupt eine Zeit, in der die Menschen schlafen? –
Ein grauer, langweiliger Morgen. Dichter Regen fällt vom schmutziggrauen Himmel.
Im Zimmer ist es noch halbfinster. In den großen Betten, die so ganz anders sind als unsere russischen, schlafen Otmar und Jurka. Ich blicke auf ihre lieben, ruhigen Gesichter, erforsche meine eigene Seele und stelle mir die Frage, die ich immer und immer auf den Lippen habe: Warum sind wir Feinde des Volkes? Feinde Rußlands?
Für mich existiert Rußland nur mehr in der Nacht. Nur im Traume kommt meine Heimat zu mir, so wie die verstorbene Mutter zum Kinde. Und ich strecke ihm die Hände entgegen. Es scheint mir, ich bin zu Hause, ich beginne den Fluß zu sehen und den Wald, die breiten, langen Straßen unserer Stadt, und ich höre die Leute russisch sprechen. Es wird mir leichter ums Herz, so, wie es mir zu Hause war …
Aber der Lärm der Straße erweckt mich von neuem aus dem Halbschlummer, in den ich hinübergesunken. Ein fremdes Zimmer, fremde Betten, ein fremder Himmel, ein fremdes Haus! Alles fremd! Noch enger schmiege ich mich an Otmar und mein Kind …
9. JÄNNER 1926
Von der Redaktion kam die Antwort, meine Erzählung aus dem russischen Leben könne nicht verwendet werden, sie sei gut geschrieben, aber zu »schwer«. Diese Antwort kränkte mich sehr. Wie soll ich denn aus dem russischen Leben etwas schreiben, das nicht traurig, nicht »schwer« wäre? Können denn die Menschen hier nichts Trauriges, nichts Düsteres ertragen?
12. JÄNNER 1926
Heute ist Otmar erst sehr spät nach Hause gekommen. Von Fenster zu Fenster ging ich und wartete voll Unruhe. Tiefe Stille lag in der ganzen Wohnung, die wortlose Stille der Verzweiflung. Das kranke Kind, die brennende Sorge um unsere Zukunft, das erfüllte mein Herz mit Pein.
Endlich ertönte die Klingel. Ich öffnete die Tür, da stand Otmar. Stürmisch warf ich mich ihm an den Hals, es schien mir, als hätte ich ihn eine ganze Ewigkeit nicht gesehen.
Seine Hände und sein Gesicht waren eiskalt.
»Warum kommst du so spät?« fragte ich. »Warum?«
»Ich bin zu Fuß gegangen. Ich wollte das Geld für die Tramway sparen, um dem Kind einige Süßigkeiten zu kaufen. Da nimm!«
Er reichte mir eine Tüte mit Konfekt, das ich nicht kannte.
»Das ist Eibisch, gegen Husten!«
Er trat ins Zimmer. Wenn er nur wüßte, wie lieb ich ihn hatte in dieser Minute!
13. JÄNNER 1926
Der Knabe hat noch immer hohes Fieber. Er läßt meine Hand nicht aus der seinen und zuckt fortwährend erschreckt zusammen. Im Fieber spricht er fortwährend von Rußland und fleht, man möge ihn wieder nach Rußland zurückschicken.
In diesen Tagen hat sich Otmar schon in verschiedenen Berufen umgesehen, es ist ihm aber noch nicht gelungen, auch nur einen einzigen Schilling zu erarbeiten.
14. JÄNNER 1926
Otmar ist krank, hat Fieber. Er hat sich wohl bei den ewigen Laufereien erkältet.
Wir haben noch 43 Schilling.
17. JÄNNER 1926
»Gehen wir auf die Post!« sagte heute Otmar. »Vielleicht sind Briefe für uns da. Ich habe so ein Gefühl, daß wir von irgendwoher Geld bekommen werden!«
»Aber du hast ja noch Fieber!« protestierte ich. »Und woher sollten wir auch Geld bekommen? Das ist ja eine phantastische Idee!«
Aber es half nichts, Otmar bestand darauf, und so machten wir uns auf den Weg. Um das Geld für die Tramway zu sparen, gingen wir die lange Strecke bis zum Hauptpostamte, wohin wir uns unsere Post von den Eltern schicken lassen, zu Fuß.
Wie ich erwartet, gab mir der Beamte einen Brief aus Rußland, aber als wir gehen wollten, rief er uns