Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa
zwei schon drei Jahre nicht miteinander sprechen, nachdem Frau Aschenbrenner einmal Schnitzel briet und anbrennen ließ und dabei die Tür in den Korridor öffnete, so daß sie der Frau Singer den ganzen Gestank in die Wohnung hineinließ, die gerade einen Apfelstrudel buk, der ihr verbrannte, weil sie die Frau Aschenbrenner eine halbe Stunde lang bitten mußte, daß sie die Tür in den Korridor zumache, und weil sie dann mit ihrem Manne solche Unannehmlichkeiten hatte, der sich den Apfelstrudel eigens für seinen Namenstag bestellt hatte . . . Und wenn ich der Frau Hruby verkaufen würde, würde die Frau Oberhuber nicht kommen, weil die zwei einmal eine Ehrenbeleidigungssache hatten, da beide nämlich einen gemeinsamen Abort haben . . .
Gegen Mittag bemerkte ich, daß Otmar, der mir den ersten Tag helfen wollte, auf einmal verschwunden war. Er saß am Bett und blickte die Wand an, mit dem Blicke eines Menschen, der vollständig erschöpft ist.
»Otmar«, sagte ich, »geh lieber in die Universität. Das ist ja doch nichts für dich. Ich glaube, ich werde mich allein leichter tun, als wenn du mir hilfst!«
Es ist ganz klar, daß Otmar sich in diese Beschäftigung nicht hineinfinden kann. Er ist es gewohnt, sich mit Wissenschaft zu beschäftigen, und hat immerfort den Kopf voll mit allerhand Dingen, so daß ihn sogar Gäste meist sehr störten. Und wie sollte er es dann aushalten, den ganzen Tag Menschen zu sehen, die ihm gleichgültig sind?
Otmar ging und ich blieb allein. Und wieder begannen die vielen fremden Gesichter vor meinen Augen aufzutauchen, die ungewohnte Sprache surrte mir im Ohre und die ungewohnte Beschäftigung machte mich nervös. Ich sollte Milch eingießen, Wurst und Butter schneiden, Käse und Obst abwiegen, während immer mindestens ein Augenpaar jede meiner Bewegungen aufmerksam verfolgte . . .
Ach, wie froh war ich, als es endlich acht Uhr geworden und dieser entsetzliche erste Tag vorbei war! Aber nach ihm mußten doch noch andere Tage folgen.
Ich war so müde, daß ich meine Hände und Füße nicht spürte, der Kopf schmerzte mich wie nach einem Alpdrücken. Ich war überzeugt, ich habe mir nicht ein einziges Gesicht gemerkt, keinen einzigen Auftrag, und ich erwartete mit Bestimmtheit, daß am nächsten Tage alle Kundschaften davonlaufen würden, und war überzeugt, daß das Geld, das wir ins Geschäft hineingesteckt, verloren wäre.
Aber es leben doch wohl überall Menschen. Bis jetzt haben mich die Leute immer gern gehabt, und warum sollten sie mich nicht auch hier liebgewinnen? Vielleicht erscheint das alles nur am ersten Tage so schrecklich und wird dann später schon in seinem Geleise weiterlaufen. Ich weiß nur das eine, daß das Geschäft gehen muß, weil wir leben müssen und weil wir das Geld, das wir uns geborgt, zurückgeben müssen.
1 Gebäck.
2 Zwischenmahlzeit.
1 Psychiatrisches Krankenhaus.
18. FEBRUAR 1926
Das Schwerste in meinem jetzigen Leben ist, daß ich sozusagen meine innere Physiognomie verloren habe oder, genauer gesagt, daß alle Leute um mich herum in mir nicht das sehen, was ich eigentlich bin, sondern etwas anderes, mir ganz Fremdes, ja Entgegengesetztes. Jeder Mensch faßt sich selbst als eine bestimmte Einheit auf, jeder Mensch weiß genau, wie er auf die anderen Menschen einwirkt, welche Stelle er in der menschlichen Gesellschaft einnimmt. Und da, auf einmal, ist dieses ganz Bestimmte, mir ganz Vertraute, weg, dahin, so wie eine Seifenblase, die in der Luft zerplatzt. Ich bin auf einmal für alle Menschen ein ganz anderer Mensch geworden!
Solange ich mich zurückerinnern kann, habe ich mich immer der Achtung meiner Umgebung erfreut. Im Gymnasium, auf der Universität, überall habe ich Vertrauen genossen und Autorität gehabt. Ich war es gewöhnt, daß man mich achtet und liebt.
Und da auf einmal, wie ich hinter den Ladentisch trat, geschah diese wunderbare Verwandlung. Denn als Besitzerin eines Geschäfts, von dem alle überzeugt sind, daß es in spätestens einem Monate zugrunde gehen wird, konnte mich niemand achten. Und dann sagten mir ja alle ins Gesicht, daß ich ohnehin betrügen würde, denn, behaupteten sie, es gäbe keinen Geschäftsmann, der die Kunden nicht betrüge. Ich weiß nicht, wie sich die anderen Geschäftsleute zu solchen Verdächtigungen verhalten, aber mich kränken solche Reden aufs tiefste.
Ob ich nun Milch eingieße, Butter abwiege, Wurst schneide oder Gebäck abzähle, immer folgen die Käuferinnen aufmerksam meinen Bewegungen, und am Ausdruck der Augen sehe ich es nur zu deutlich, daß sie deshalb so viel Aufmerksamkeit verwenden, weil sie verhindern wollen, daß ich sie übervorteile . . .
Dabei fühle ich, daß ich ganz unmöglich imstande wäre, mir auch nur die geringste Ungenauigkeit zuschulden kommen zu lassen, deshalb, weil in mir etwas ist, was mir dies kategorisch verbieten würde. Aber können die Leute das wissen?
22. FEBRUAR 1926
Es ist erst sechs Uhr früh, aber Otmar ist schon in die Stadt gegangen, und ich bin wieder für den ganzen Tag allein. So unfreundlich war es heute draußen, als ich vom Markte zurückkehrte! Die Fahrbahn und die Gehwege waren feucht, blasse Lichter flackerten in der Morgendämmerung, die Leute hetzten aneinander vorbei, mit ungeduldigen, gereizten Mienen. Einige Sterne standen noch am aufhellenden Himmel, und als ich zu ihnen emporblickte, da war es mir, als wollte das Gefühl der Einsamkeit und der Verlassenheit mir das Herz in der Brust erdrücken. Ich erinnere mich, daß schon in meiner Kindheit der Anblick des Morgenhimmels mit den erlöschenden Sternen immer ein Gefühl der Angst vor dem Alleinsein in mir auslöste.
Ich brachte der Trafikantin gegenüber die heiße Milch, die sie jeden Tag bei mir nimmt, und wünschte ihr guten Tag. Und ihr mürrisches »Guten Tag« klang ebenso einsam durch diesen grauen Morgen wie das Hupen eines vorüberfahrenden Automobils. Die Stadt war ja gerade erst am Erwachen.
Lange stand ich dann noch vor der Tür meines Geschäftes und blickte zum Himmel empor. Mir kam es so unsagbar schrecklich vor, daß ich einst irgendwo hier in Österreich sterben würde und nicht in Rußland. Warum mir gerade da der Gedanke an meinen Tod kam, das weiß ich nicht. Aber als ich den Himmel mit den langsam vergehenden Sternen vor mir sah, als ich das dumpf-gleichgültige »Guten Tag« der Trafikantin hörte, als ich die Schatten der armen und gedrückten Arbeitsmenschen an mir vorbeieilen sah, als ich die Feuchte und die Kälte des Wintermorgens meinen Körper durchrieseln spürte, da fühlte ich es, daß der Tod irgendwo nahe ist, ganz nahe, und daß es nichts Schrecklicheres geben könne als den Tod inmitten der kalten Gleichgültigkeit ringsherum . . .
25. FEBRUAR 1926
Im Geschäft ist es bedeutend ruhiger geworden. Nach den ersten Tagen, in denen alle herbeiliefen, um zu sehen, wer da »hereingefallen« ist, ist das Interesse verflogen. Die erste Neugierde ist gestillt, und jetzt gehen die Leute in die anderen Geschäfte, um dort die Eindrücke wiederzugeben, die sie hier empfangen. Sie warten nun wohl alle und rechnen es sich aus, wann wir zugrunde gehen werden. Und wenn es so weitergeht wie jetzt, so sind wir tatsächlich rettungslos verloren. Den ganzen Tag über rechne und rechne ich, um Ausgaben und Einnahmen festzustellen. Ich verkaufe jetzt kaum mehr als dreißig Liter Milch im Tag, und vom Liter habe ich nur vier Groschen rein. Dabei liefert die Molkerei so, daß regelmäßig fast ein halber Liter fehlt, und die Kunden sind beleidigt, wenn man genau mißt und nicht etwas »draufgibt«. An den anderen Waren verdiene ich auch nicht viel, und von dem, was ich verdiene, verliere ich wieder einen großen Teil an den Milchflaschen.
Ach, diese Milchflaschen! Für jede Flasche muß ich der Molkerei fünfzig Groschen Einsatz zahlen. Von den Käufern aber wollen viele von einem Einsatz für die Flaschen gar nichts wissen, sie erklären beleidigt, es sei doch selbstverständlich, daß sie sie zurückbringen würden. Sehr oft aber bleibt es bloß beim Versprechen. Ich habe nie geglaubt, daß die Menschen so viel von anderen und so wenig von sich selbst an Genauigkeit und Anständigkeit verlangen. Ich habe mir vorgestellt, das Führen eines Geschäftes wäre sehr einfach: eingießen, abwiegen, einpacken, einkassieren, das wäre alles. Aber es ist unendlich viel komplizierter.
Ich erinnere mich da an eine Anekdote, die mir mein alter Professor der Linguistik erzählte. Er ging einmal an einem Exerzierplatz vorbei, auf dem Einjährig-Freiwillige