Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa

Milchfrau in Ottakring - Alja Rachmanowa


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      6. MÄRZ 1926

      Jeden Tag in der Früh kommen zwei junge Menschen zu mir ins Geschäft, beide mit dicken Aktentaschen unter dem Arm, und verzehren zum Frühstück ein Glas Milch und eine Semmel. Immer sind sie in Eile.

      Noch niemals in meinem Leben habe ich junge Leute gesehen, die so bis oben angefüllt waren mit Energie und Arbeitslust. Beide sind sie natürlich arbeitslos und beide wollen sie nicht bloß Arbeit und Auskommen haben, nein, reich wollen sie werden, und zwar in kürzester Zeit, mit einem Schlage. Ich denke mir oft, wenn sie an der richtigen Stelle stehen würden, sie könnten eine ungeheure Arbeit leisten und vielleicht ganz Außerordentliches erreichen. So aber haben sie, wie sie sich ausdrücken, »Pech« im Leben. Alles, was sie beginnen, geht »schief«. Aber das Merkwürdige ist, daß alle diese Mißerfolge nicht imstande sind, auch nur im geringsten ihre Energie und ihre Hoffnungsfreudigkeit zu vermindern. Hat sich ein Plan als undurchführbar herausgestellt, gleich wird ein neuer entworfen . . .

      Der eine von den beiden heißt Willi, der andere Fred. Willi ragt besonders durch seine Rednergabe hervor, ist hübsch und hat, wie er verschmitzt lächelnd behauptet, Glück bei den Frauen. Fred dagegen macht den Eindruck eines ernsten, vertrauenswürdigen Menschen, der nur wenig spricht. Fred ist der Sohn eines verkrachten Großkaufmannes, Willis Vater war Offizier, und er selbst hat auch die Kadettenschule besucht. Beide machen einen außerordentlich sympathischen Eindruck, obwohl mir gleich ein unbestimmtes Gefühl sagte, man müsse sich hüten, mit ihnen irgend etwas zu tun zu haben, besonders in Geldsachen.

      »Frau Wagner«, sagte heute Willi zu mir – ich muß sie beide bei ihrem Taufnamen nennen, da ich ihre Familiennamen nicht kenne –, »wollen Sie innerhalb eines Monats hunderttausend Schilling in der Hand haben oder nicht? Sie brauchen nur ja zu sagen, und Sie werden sie haben! Sie brauchen mir nur drei Schillinge geben, sich hier zu unterschreiben und in einem Monat haben Sie hunderttausend Schilling gewonnen! Das Los, das Sie von mir nehmen, muß nämlich den Haupttreffer machen, denn ich bin ein Glücksvogel!«

      »Nehmen Sie es nur, Frau Wagner!« fiel Fred mit seinem tiefen Baß ein. »Wir bringen Ihnen sicher Glück. Wir haben schon halb Wien Glück gebracht! Unterschreiben Sie nur, in drei Tagen bekommen Sie das Los zugeschickt, in einem Monat sind Sie reich!«

      Ich blickte sie an, wie sie so vor mir dastanden, die Hälse mit bunten Wollschals fest umwickelt. Im Eifer des Gespräches hatte sich bei Willi dieser Schal etwas verschoben, und ich sah ganz deutlich, daß er den Kragen – der übrigens von zweifelhafter Weiße war – frei am Halse liegen und überhaupt kein Hemd am Leibe hatte. Der Eindruck, den er machte, war alles eher als vertrauenerweckend.

      »Mit Ihrem heutigen Unternehmen werden Sie nicht viel Glück haben«, sagte ich, »denn es wird Ihnen sicher niemand ein Los abkaufen, wenn er es nicht gleich in die Hände bekommt.«

      Willi lächelte verächtlich und sagte:

      »Aber was glauben Sie denn! Wenn es keine Dummen auf der Welt gäbe, wären wir schon lange verhungert! Nun, Sie nehmen doch auch sicher ein Los, nicht wahr?«

      »Ausgeschlossen!«

      »Nicht? Da kann man eben nichts machen, da müssen wir gehen, Zeit ist Geld!«

      Sie verabschiedeten sich äußerst freundlich. Ich bat sie, nicht beleidigt zu sein, weil ich ihnen kein Los habe abnehmen wollen.

      »Aber, gnädige Frau«, sagte Fred, »in unserem Berufe darf man nicht beleidigt sein, da darf man keine Eigenliebe haben. Das können sich nur Festangestellte leisten!«

      Als sie schon bei der Türe waren, kehrte sich Willi noch einmal um und sagte:

      »Wenn Sie schon kein Los kaufen, wollen Sie nicht mit mir um drei Schilling wetten, daß ich heute mindestens zehn Lose verkaufe? Bitte, keine Angst vor Betrug, ich lasse Sie abends in meine Bücher Einsicht nehmen!«

      Erst als auch aus diesem Vorschlage nichts wurde, entfernten sich die zwei endgültig.

      Abends traten sie ins Geschäft, über das ganze Gesicht glänzend.

      »Nun, wie ist das Geschäft gegangen?« fragte ich, während ich ihnen die Milch reichte, die sie bestellt.

      »Großartig! Vier Idioten haben wir gefunden! Das heißt vielmehr«, antwortete Fred, »eine Idiotin, einen Besoffenen und zwei gute Seelen! Freilich, zehn Groschen haben wir dabei draufgezahlt, denn der Betrunkene hatte im ganzen nur zwei Schilling und neunzig Groschen bei sich. Eine Frau hat uns ein Los abgenommen, weil Willi ihrem Sohn ähnlich sieht, der im Kriege gefallen ist, ein Dienstmädchen das andere, weil ich dieselben schönen Augen habe wie ihr Bräutigam.

      Ganz Wien sind wir abgelaufen. Aber dieses Geschäft ist doch etwas zu gefährlich. Morgen müssen wir etwas anderes beginnen. Wir werden Tinte verkaufen!«

      Und des langen und breiten begannen sie jetzt sich zu unterhalten, wie sie aus Tintenstiften Tinte erzeugen könnten, die sie dann in den Trafiken losschlagen wollten. Am meisten zerbrachen sie sich den Kopf, wie sie zu einem gedruckten Firmenaufdruck kommen könnten. Als sie mit ihren geschäftlichen Angelegenheiten zu Ende waren, machten sie sich daran, Kreuzworträtsel zu lösen. Sie tun dies jeden Abend und schicken jedesmal am nächsten Tag die Lösung ein, haben aber bis jetzt noch keinen einzigen Groschen gewonnen.

      Sie gehen zeitlich heim und trinken, wie sie behaupten, nie Alkohol, denn sie müssen, sagen sie, bei ihrem Berufe immer einen klaren Kopf haben.

      12. MÄRZ 1926

      Ich sitze in der halbdunklen Kirche, rückwärts, im verstecktesten Winkel. Der Gottesdienst hat noch nicht begonnen. Die Kirche ist ganz leer, nur ein alter Bettler steht vor einer Heiligenstatue, mit einem derartig müden und hoffnungslosen Ausdruck im Gesicht, daß man auf ihn nicht blicken kann, ohne Schmerz zu empfinden.

      Gestern habe ich den ganzen Tag gewaschen, mein erster Waschtag, seit wir hier im Geschäfte sind. Für mich war es ein bitterer Tag, aber für die ganze Bewohnerschaft unseres großen Hauses gab das ein interessantes Ereignis ab, ja, man kann sagen, eine Sensation.

      Die Füße und die Hände schmerzten mich, und unerträglich dunstig und feucht war es in der Waschküche. Durch das kleine, vergitterte Fensterchen drang das Tageslicht nur schwach herein, und nur hin und wieder konnte man durch das sich an den Scheiben niederschlagende Wasser die Füße der Passanten deutlich erkennen. Der Dunst stieg aus dem Kessel empor und verbreitete sich über den ganzen Raum. Und Schimmel an den Wänden, Schimmel an der Decke und überall, und es schien mir als ob sich auch mein Inneres dem dumpfen Andrange dieses Moders nicht erwehren könnte.

      Aber die Arbeit schreckte mich nicht. Mein Gott, habe ich nicht hunderte Male in Rußland gewaschen und im Frost die schweren Wassereimer geschleppt? Habe ich nicht im schmutzigen, halbdunklen Waggon gehaust? Aber dort war das ja in der Ordnung, alle Flüchtlinge haben damals so gelebt. Hier jedoch in dem großen Miethause fühlen alle Bewohner, daß ich da etwas tue, was sich für mich nicht gehört, was mir nicht zukommt, und das ist es eben, was alle so interessiert und mit Schadenfreude erfüllt. Als das erstemal mein Waschtag nahte, kamen meine Kundinnen, eine nach der andern, und boten mir ihre Dienste als Wäscherin an. Als ich sagte, ich würde selbst waschen, blickten sie alle skeptisch auf meine Hände, und eine behauptete, ich wäre zu sehr »Gnädige«, als daß ich in dieser Waschküche waschen könnte.

      »In der Waschküche ist kein Ausguß im Fußboden«, sagten sie, »und die Hausmeisterin ist eine solche ›Bißgurn’, die schimpft immer, wenn der Boden nachher nicht ganz rein ist. Geben Sie die Wäsche lieber aus dem Haus, Sie werden sich nur Unannehmlichkeiten zuziehen!«

      »Alle im Haus sind schon krank vor Neugierde, welche Wäsche Sie haben; sie werden Ihnen keine Ruhe geben, bis sie nicht alles gesehen haben!« So warnte mich Frau Bacher, die mir vom ersten Tage an mit großer Herzlichkeit entgegengekommen ist.

      Ich


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