Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa
verkaufen Sie das Geschäft?« fragt Otmar.
»Ja, wissen Sie«, lautet die Antwort, »meine Schwiegermutter will eine Sache anfangen, und da fordert sie das Geld zurück, das sie uns für das Geschäft geliehen hat. Da bleibt mir nichts übrig, als zu verkaufen. Sie können sich denken, wie schwer es für mich ist, eine solche Goldgrube aufzugeben!«
Wir haben heute sieben Geschäfte angeschaut, und dieses ist das fünfte, an dessen Verkauf die Schwiegermutter schuld ist, die plötzlich ihr Geld zurück haben will. Wieder ein Beweis für die abgrundtiefe Schlechtigkeit des so verschrienen Geschlechtes der Schwiegermütter! – Den wahren Grund des Verkaufes sagt natürlich niemand. Aber an den leeren Gestellen, die durch leere Schachteln und Blechbüchsen den Eindruck der Fülle erwecken sollen, an der vernachlässigten Auslage, an dem schmierigen Ladentische sieht man sofort, daß es sich um ein Geschäft handelt, das zugrunde gegangen ist.
Auf die Frage, ob auch ein Wohnraum zum Geschäft gehört, antwortete der Besitzer:
»Ja, aber er ist ein wenig in Unordnung; wir sind nämlich gerade dabei, ins Dorf zu ziehen!«
Wir treten ein. Ein ganz kleines Zimmer ist es, mit einem Fenster in den Hof, halbdunkel. Ein ungeheures Bett mit rosa Federbetten nimmt fast den ganzen Raum ein, und auf ihm sitzen und liegen Kinder, deren Zahl ich auf sechs bis sieben schätze. Beim Herde stehen zwei Frauen, die sich nicht einmal nach uns umdrehen. Ich sehe ihre nackten, mageren, schmutzigen Beine. Durch das ganze Zimmer hindurch hängt eine Schnur mit irgendwelchen Fetzen zum Trocknen. Die Luft ist entsetzlich.
Auf die Frage, wieviel das Geschäft kostet, lautet die Antwort:
»Fünftausend Schilling, weil es eine Goldgrube ist!«
Wie wir wieder draußen sind, brauchen wir eine ganze Weile, um uns von dem niederschmetternden Eindruck zu befreien, den diese Höhle auf uns gemacht. Dann beschließen wir, noch eine der vorgemerkten Adressen vorzunehmen, obwohl es von Hernals, wo wir uns jetzt befinden, bis nach Hietzing sehr weit ist.
Wir fahren zuerst mit der Tramway, dann mit der Stadtbahn. Die Teile der Strecken, die unterirdisch führen, bringen den Knaben in hellstes Entzücken, nicht weniger aber auch die hochbahnartigen Teile. Auch ich sauge das Bild mit Begierde in mich ein. Die riesigen, mit tausend Lichtern übersäten Häuser, die vielen kleinen Parks, die zahlreichen Kirchen, die Automobile und Tramwaywagen, die unter den Viadukten hindurchschießen, wie ganz anders ist doch dies alles als in meiner stillen Heimatstadt, in der um diese Stunde kaum ein Mensch mehr auf der Straße ist. Und die Menschen! Alle sind sie ganz anders angezogen als bei uns, alle unvergleichlich eleganter und kultivierter, selbst die einfachsten Arbeiter. Am meisten aber gefallen mir die Frauen.
Da, mir gegenüber, sitzt eine Blondine, sicher eine einfache Verkäuferin, aber ich bin überzeugt, daß es jetzt in ganz Rußland keine einzige Frau gibt, die so nett gekleidet ist.
Wir steigen aus. Wieder müssen wir lange gehen, bis wir endlich am Platze sind. Einem großen Park gegenüber steht ein langes Haus von ganz komischer Gestalt, wie ein Bügeleisen. Darin befindet sich das Geschäft, das wir besichtigen wollen. Wir erkennen es an den weißen Milchflaschen, die einsam in einer Auslage stehen, deren großes Fenster einen riesigen Sprung aufweist, von einer Ecke in die andere …
Nachdem wir eingetreten, empfängt uns eine dicke, rotwangige Frau in einer groben dunkelblauen Schürze mit einem großen roten, eingesetzten Fleck, gerade mitten auf dem Bauch. Vor ihr steht ein großer Teller mit frischem Weißkäse, von dem sie gerade mit der bloßen Hand ißt. Wie sie uns sieht, wischt sie schnell ihre Hände in der Schürze ab und verzieht den Mund zu einem breiten Lächeln.
Im Geschäft gähnt eine erschreckende Leere. Außer dem Käse befinden sich darin noch zwei Milchkannen mit einer großen Milchlache davor, etwa zehn Eier auf einem zerbrochenen Teller auf einem Regal und sonst nichts, buchstäblich nichts, außer man rechnet den Schmutz noch zur Einrichtung, der überall herumliegt.
»Ich verkaufe das Geschäft«, erklärt sie, »weil ich heirate und ins Dorf zurückgehe. Mir paßt es nicht mehr in der Stadt. Aber das Geschäft ist eine Goldgrube. Eine wahre Goldgrube!«
Wir erkundigen uns nach dem Kundenstock.
»Ach, eine Menge Leute kaufen bei mir ein«, erklärt sie.
»Sie haben wohl das ganze große Haus als Kunden?« fragen wir.
»Eigentlich nicht, mit den meisten Parteien bin ich zerstritten, die Leute sind einem ja alle neidig. So neidig sind die Leute, daß sie, wenn Sie sie fragen, noch imstande sind und behaupten, ich verkaufe das Geschäft, weil es nichts trägt. Aber ich sage Ihnen, es ist eine wahre Goldgrube und ich gebe es nur her, weil ich heirate!«
»Ja, aber wenn Sie aus dem Hause keine Käufer haben«, wendet Otmar ein, »wo haben Sie sie denn dann? Gegenüber ist der Park, rechts der Bahndamm, links der lange Holzplatz, und in den Häusern weiter unten sind Geschäfte, die den Eindruck machen, daß sie recht gut gehen!«
»Ach, wenn Sie es verstehen, den Dienstmädchen schön zu tun«, antwortet sie, »dann werden sie auch zu Ihnen kommen! Die Hauptsache ist, daß man mit den Dienstmädchen gut steht!«
»Zeigen Sie uns die Wohnung!« sagt Otmar. »Sie haben angegeben, daß drei Zimmer vorhanden sind.«
Die Zimmer sind ziemlich groß, aber fast ganz dunkel und so feucht, daß das Wasser von den Wänden rinnt. Und in jedem Zimmer flanieren einige Hunde herum, große schmutzige Tiere von gänzlich unbestimmter Rasse. Sie kratzen sich in einem fort und machen einen Höllenlärm. Ein entsetzlicher Gestank erfüllt die Räume, die, außer den Hunden, fast keine Einrichtung besitzen.
»Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einige von den Hunden dalassen, wenn ich aufs Dorf gehe«, sagt sie freundlich.
Nachdem wir noch erfahren, daß sie für die »Goldgrube« 4500 Schilling haben will, gehen wir fort.
15. FEBRUAR 1926
Der erste Tag in unserem Geschäfte! Werde ich ihn jemals vergessen?
Schon nach den ersten drei Stunden war ich beinahe verrückt; es kreiste mir nur so alles im Kopfe herum, diese neuen Gesichter, die mich mit unverhehlter Neugierde anstarrten, und vor allem diese vielen neuen Namen: wie soll ich mir alle diese Bänder, Gruber, Jiracek, Huber, Ondraschek, Meier, Zalodek und wie sie alle noch heißen merken? Was für schwere Namen diese Wiener haben! Und dann, ich soll nicht vergessen, daß die Frau Novotny früh ein Kipfel,1 zur Jause2 ein Zuckerkipfel und zum Nachtmahl einen Patentwecken braucht, daß dem Herrn Chawatal ein Viertelliter Milch, der Frau Bacher drei Viertelliter usw. vorbereitet werden müssen, daß die Frau Suchomel Freitag abend einen ganz frischen Liptauer wünscht usw. usw.
Und den ganzen Tag über war das Geschäft voll von Menschen. Natürlich spielte die Neugierde eine große Rolle. Beinahe alle traten mit einem freundlichen Lächeln ein, sagten »Guten Tag« und begannen mir sofort ihr Bedauern auszudrücken, daß wir dieses Geschäft gekauft, denn es würde bestimmt spätestens in einem Monat zugrunde gehen.
Dann begannen die Frauen mir Ratschläge zu erteilen. Der Frau Tichy darf nichts auf Kredit gegeben werden, weil ihr Mann bald seinen Posten verlieren wird, dem Herrn Pogner nicht, weil er immer sein ganzes Geld versauft, und der Frau Hromada nicht, weil sie überhaupt davon lebt, daß sie Geschäftsleute ruiniert, weil sie riesige Schulden macht und nicht zahlt, dabei aber ruhig jeden Tag ins Kaffeehaus geht, Geld für Zigaretten hinauswirft und noch dazu ihre Katzen mit Schlagrahm füttert . . .
Und dann wurde ich gleich am ersten Tag in eine ganze Reihe von Familienverhältnissen eingeweiht. Die Frau Bartom hat früher ein zweifelhaftes Haus geführt und ist dadurch reich geworden, der Herr Bänder ist schon einige Male gesessen und es ist überhaupt eine Frage, ob seine Schwiegermutter eines natürlichen Todes gestorben ist; er wird sicher bald wieder wegen irgend etwas eingesperrt werden. Herr Bauer ist ein bekannter Dieb, Fräulein Fischer sieht nur so aus wie eine »Gnädige«, geht aber in Wirklichkeit »auf den Strich«, und ihr Vater ist ein alter Trunkenbold, den man ohnehin bald nach Steinhof1 bringen wird . . .
Und