Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa

Milchfrau in Ottakring - Alja Rachmanowa


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vielleicht mehr mit dem Kopf arbeiten als früher, wenn ich mich auf eine Vorlesung vorbereitete.

      Aber das Geschäft muß gehen. Ich werde alle meine Kräfte zusammennehmen, um die Leute zu zwingen, bei mir einzukaufen. Niemals in meinem Leben habe ich es geliebt, andere Leute dafür verantwortlich zu machen, wenn es mir schlecht geht; auch jetzt will ich nicht über die Gemeinheit der Menschen klagen, sondern will versuchen, aus eigenen Kräften hochzukommen.

      Etwas ist für mich ein großes Hindernis: daß ich eine Ausländerin bin. Wäre ich eine »Hiesige«, wäre es sicher viel leichter. Ich weiß, daß in unserem Hause einige Frauen wohnen, die prinzipiell nicht zu mir kommen. Sie haben kein Wort mit mir gesprochen, sie kennen mich nicht, aber sie können mich nicht leiden und versuchen sogar andere davon abzuhalten, bei mir einzukaufen. Dieser Haß gegen Menschen, die man gar nicht kennt, dieses Verlangen, anderen ohne jeden leisesten Grund Böses zu tun, setzt mich in tiefstes Erstaunen. Es wird mir geradezu unheimlich, wenn ich sehe, welch furchtbare dunkle Kräfte im Menschen verborgen sind.

      Da wohnt zum Beispiel in unserem Hause eine Frau Stern, die Witwe irgendeines Beamten, eine dicke Frau, die anscheinend sehr wirtschaftlich ist, denn man sieht sie fortwährend mit einer vollen Einkaufstasche herumlaufen. Sie macht den Eindruck eines außerordentlich gemütlichen und gutherzigen Menschen. Heute hatte ich Gelegenheit, folgendes Gespräch anzuhören, das sie mit Frau Novotny im Hofe beim Müllausleeren führte:

      »Warum kaufen Sie denn nicht bei der Frau Wagner?« fragte Frau Novotny. »Beim Zima ist doch alles viel teurer und schlechter, es ist doch bekannt, daß er die Flaschenmilch selbst aus offener Milch abfüllt und daß er schon gestraft worden ist, weil er die Milch wässert.«

      »Ach, was reden Sie da zusammen?« antwortete Frau Stern. »Alle Milchhändler wässern die Milch. Aber beim Zima weiß ich wenigstens, daß er bloß Wasser hineintut und daß ich nicht irgendeine Krankheit erwische. Aber was die Wagner macht, das weiß ich ja nicht. Ich würde Ihnen überhaupt nicht raten, bei dieser Fremden zu kaufen. Weiß Gott, wer sie ist und woher sie kommt. Was hat sie überhaupt hier zu suchen?«

      Ich hörte noch einen verwunderten Ausruf der Frau Novotny und dann noch ein Geflüster, von dem ich aber kein Wort verstand . . .

      Jetzt ist die Zeit schon lange vorbei, zu der Frau Novotny gewöhnlich einkauft. Sollten die Worte der Frau Stern gewirkt haben?

      29. FEBRUAR 1926

      Ein Brief von der Mutter:

      »Ach, Kinder, ich kann mich mit dem Gedanken nicht abfinden, daß Ihr auf einmal Geschäftsleute geworden seid! Ich kann mir nicht vorstellen, daß das das einzige wäre, wozu Alja fähig ist.

      Alja, warum versuchst Du nicht, etwas zu schreiben? Ich war immer überzeugt, daß Dir dies gelingen würde. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß das, was Du schreibst, niemanden interessieren würde.

      Wenn Du wüßtest, mit welcher Wärme alle unsere Bekannten von Dir sprechen! Das ist mein einziger Trost, daß meine Tochter in den Herzen der Menschen hier ein so lichtes Erinnern zurückgelassen. Es ist beinahe so, als ob Deine Seele hiergeblieben wäre. Alle, die ich treffe und mit denen ich über Dich spreche, haben beinahe Tränen in den Augen. Unsere Dascha weint fast jeden Tag und manchmal halten mich auf der Straße ganz unbekannte Frauen an und erkundigen sich über Dich.

      Diese Liebe aller zu Dir rührt mich tief und gibt mir die Hoffnung, daß Dich die Menschen auch im fremden Lande so liebgewinnen werden wie in der Heimat.

      Ach, wie schwer ist es uns ohne Euch, meine lieben Kinder, so daß wir es manchmal kaum ertragen können. Wie oft ziehe ich mit dem Großvater die Lade heraus, in der Jurkas Spielsachen liegen, und nehme sie in die Hände! Es sind lauter wertlose Sachen, aber sie sind uns teurer als alles in der Welt, denn sie erinnern uns an unseren lieben Jungen. Der Großvater erinnert sich, wie er mit Jurka Indianer spielte oder wie Jurka auf ihm als Reiter in der Stube herumritt, und es rollen ihm dabei die Tränen über die Wangen.

      Ach, wie gerne wollten wir Euch wiedersehen! Wann wird das nur werden?«

      1. MÄRZ 1926

      Jeden Abend kommt Fräulein Gretl zu mir um Milch. Es ist ein großes, schlankes, sehr bescheidenes und sehr rein gekleidetes Mädchen. Sie fällt schon deshalb auf, weil sie nicht, wie die Mehrzahl aller jungen Mädchen hier, einen Bubikopf trägt. Zwei große Zöpfe ruhen wie eine Krone auf ihrem Kopf. Zwei große hellblaue Augen blicken freundlich, ruhig und klar in die Welt.

      Jeden Abend erzählt sie mir von ihrem Hans, der in München Briefträger ist und der sie heiraten wird, sobald beide zusammen so viel erspart haben werden, daß sie sich eine Ausstattung kaufen können. Pünktlich einmal in der Woche schreiben sie sich.

      »Öfter schreiben steht nicht dafür«, erklärt sie, »die Marken kosten schließlich auch Geld. Wir gehen schon sieben Jahre miteinander.«

      Ich mußte sie wohl ziemlich verständnislos angesehen haben, denn sie erklärte mir weiter:

      »Das heißt nämlich, wir sind schon sieben Jahre miteinander verlobt. Aber im Frühjahr werden wir wohl heiraten können. Auf der Messe kaufen wir die Möbel, Küche und Schlafzimmer. Dort ist alles viel besser und billiger als in den Geschäften.«

      Gretl hat ihren Hans schon drei Jahre nicht gesehen. Sie schicken sich aber jedes Jahr einmal eine neu aufgenommene Photographie; beide warten und beide wissen, daß sie sich heiraten werden.

      Bei uns in Rußland wäre so etwas jetzt undenkbar. Niemand würde warten, bis die Einrichtung zusammengespart ist. Er hat nichts, sie hat nichts, und sie heiraten, um dann ebenso schnell wieder auseinanderzugehen, wie sie sich gefunden.

      Gretl ist Kellnerin in einer Küche der »WÖK«1.

      »Die Wäsche haben wir schon fast ganz angeschafft, auch die Bettwäsche. Sogar einen Schlafrock habe ich ihm schon genäht!« teilt sie mir mit leuchtenden Augen mit, heute vielleicht schon zum zehnten Male.

      Ich liebe diese Gretl mit ihrem freundlichen, ruhigen Gesichte, ihren bescheidenen Gesten, ihrer Ausdauer, ihrer Sachlichkeit, die himmelweit von Gleichgültigkeit entfernt ist.

      1 Billige Speisehäuser.

      3. MÄRZ 1926

      Als wir das Geschäft kauften, dachte ich, wir würden jetzt die selbständigsten Leute der Welt sein. Ich habe aber gleich am ersten Tag eingesehen, daß ich mich da grausam geirrt habe. Noch niemals im Leben waren wir so abhängig von den anderen Menschen wie jetzt.

      Die Frau Neugebauer hat sich mit der Frau Tichy vor der Tür meines Geschäftes zerstritten. Ich verstand nur, daß es sich um ein Kissen handelte, das am Fensterbrett lag und auf das vom oberen Stockwerk etwas heruntergetropft war. Frau Neugebauer kaufte immer sehr viel bei mir ein. Eier, Milch, Butter, Wurst, Käse. Heute abend blieb sie aus.

      »Sie wird bei Ihnen nicht einkaufen«, erklärte mir die Hausmeisterin, »weil sie mit der Frau Tichy bös ist, und sie will sich nicht dem aussetzen, daß sie die vielleicht in Ihrem Geschäft treffen muß.«

      »Sie wird also deshalb bei mir nicht einkaufen?« frage ich erstaunt.

      »Bis sie sich mit der Frau Tichy nicht versöhnt, sicher nicht«, bekam ich zur Antwort.

      Von solchen Dingen also hängt mein Verdienst ab!

      Dann haben die Kunden ganz merkwürdige Vorstellungen von ihren Rechten und Pflichten dem Kaufmann gegenüber, das heißt, genauer ausgedrückt, sie glauben, sie hätten überhaupt nur Rechte und keine Pflichten.

      Heute hat Frau Sieberer zum Vieruhrtee zwanzig Zukkerkipfel bei mir bestellt, weil sie Gäste bekommen sollte. Um sechs Uhr schickte sie ihr Töchterchen zu mir:

      »Die Mutter läßt sagen, daß sie die Zuckerkipfel nicht mehr braucht, weil die Gäste nicht gekommen sind!«

      Weil die Gäste der Frau Sieberer nicht gekommen sind, sollen wir die zwanzig Zuckerkipfel selbst aufessen. Äußere


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