Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa
Sobald nur die Tür sich langsam, ganz langsam öffnete, zuerst das dunkle Haupt und nachher die kleine Gestalt mit dem langen Krummstab sich lautlos hereinschob, mußte einige Tage später irgendein Unglück eintreten. Das Unglück war unvermeidlich, aber man wußte auch, daß die Mutter Dorofeja für die Betroffenen so lange beten würde, bis sich alles wieder zum Guten gewendet hätte. Und so erschien sie allen nicht als die Urheberin des Unheils, sondern als die, die Schutz vor den Folgen desselben bringen würde.
Die Mutter Dorofeja stellte ihren Krummstab in eine Ecke und begann das ganze Zimmer zu bekreuzen. Vollständig systematisch ging sie dabei vor: zuerst die Fenster, dann die Tür, dann die Schlüssellöcher. Damit vertrieb sie den »Unreinen Geist«, womit sie den Teufel meinte. Hierauf ging sie zu dem Geschirrschrank. Bei allen Familien, in denen sie verkehrte, befand sich dort eine hölzerne Schüssel und ein Holzlöffel für sie. Niemals aß sie aus einem anderen Geschirr, da sie jedes andere als unrein ansah. Nachdem sie diese Schüssel und diesen Löffel mit einem Kreuzzeichen versehen, wandte sie sich an die Anwesenden, um sie zu begrüßen.
Auch ihr Gruß war ganz eigenartig. Alle mußten sie auf die Schulter küssen und wurden dabei von ihr bekreuzt. Dies ging unter tiefem Schweigen vor sich. Nachher begab sie sich in die Ecke, in der die Ikone hingen, setzte sich dort nieder, schlug ihr kleines, in Schweinsleder gebundenes Büchlein auf und vergrub sich in dessen Lektüre.
Von dieser Minute an begannen alle ihr gewöhnliches Leben weiterzuführen, aßen, tranken, schliefen und arbeiteten wie sonst; aber niemanden verließ auch nur auf eine Minute der Gedanke, daß die Mutter Dorofeja anwesend sei und daß man kein einziges Wort, das sie sprechen würde, überhören dürfe.
Die Mutter Dorofeja aß nur einmal im Tag, immer ein und dasselbe: Kartoffeln mit Sonnenblumenöl und geriebenem Rettich. Dann betete sie stundenlang. Des Abends versammelten sich alle um sie herum und lauschten, wie sie irgend etwas von ihren Wanderungen erzählte. Sie war ihr ganzes Leben lang umhergezogen, von einem Heiligen zum andern, von einem Wallfahrtsort zum andern, dreimal war sie am Grabe des Herrn gewesen, die Ssolowki1 hatte sie besucht, den Seraphim von Sarrow, Simeon den Gerechten und die Kiewer Lawra . . . Ich glaube, es gibt keinen einzigen Heiligen, kein einziges Kloster im weiten heiligen Rußland, in dem sie nicht gewesen wäre.
Ihre Erzählungen machten immer auf alle den tiefsten Eindruck. Sie sprach im gewöhnlichen Bauerndialekt, den sie aber mit vielen kirchenslawischen Ausdrücken untermischte. Alles, was sie sprach, war von starkem Glauben getragen, und hinter allem mußte man einen tiefen, geheimen Sinn erkennen. Ihre Worte konnte man nicht vergessen, sie gruben sich in die Seele ein wie eine Flammenschrift.
Wenn sie erzählte, gab es keinen Menschen im Hause, der nicht dabei war. In den Türen stand das ganze Gesinde. Die Köchin heulte laut vor Ergriffenheit und grub sich dabei die Faust tief in die Wange; der Kutscher schneuzte sich ununterbrochen in die Hand, über die dabei die Tränen herunterliefen. Die Großmutter bekreuzte sich von Zeit zu Zeit, und der Großvater zog seine schwarzen Brauen zusammen, wobei sein Gesicht beinahe denselben merkwürdigen Gesichtsausdruck annahm, wie ihn die Mutter Dorofeja hatte.
Bevor man sich zu Tische setzte, verbeugte sich die Mutter Dorofeja vor den Anwesenden, beinahe bis zur Erde, und sprach:
»Verzeiht mir, meine guten Leute, wenn ich heute vor euch gesündigt haben sollte.«
Und dann fügte sie immer hinzu:
»Verzeiht auch einander, wenn ihr euch beleidigt habt, denn niemand weiß, wieviel ihm noch zu leben geblieben ist, und ohne Verzeihung zu sterben ist das Schrecklichste auf der Welt.«
Und in der Tat, wenn die Mutter Dorofeja im Hause war, da sprachen alle mit einer ganz andern, leiseren und ruhigeren Stimme. In der Küche hörte das Gezänke auf, die Kutscher fluchten nicht. Das Gesicht der Großmutter nahm einen feierlichen Ausdruck an und der Großvater sprach wenig, während er sonst doch stundenlange Unterredungen mit seinen Angestellten führte. Es war so, als ob alles im Hause damit beschäftigt gewesen wäre, seine Seele zu reinigen.
Nach dem Abendessen gab es uns Kindern keine Ruhe, bevor wir uns nicht bis zur Vorratskammer durchgeschlagen hatten, in der Mutter Dorofeja schlief. Nicht um alles in der Welt hätte sie im Zimmer geschlafen; die »Kammer der Mutter Dorofeja«, die an das Speisezimmer anstößt, ein dunkles Loch, ohne Fenster, war der einzige Ort, an dem sie es gestattete, daß man ihr ein Bett herrichtete. Es durfte aber aus nichts anderem bestehen als aus einer Lage Stroh.
»Christus ist auf Stroh geboren, warum soll da nicht ich arme Sünderin auch auf Stroh schlafen?« sagte sie immer.
Das Aufregendste und Unheimlichste für uns Kinder aber war, daß sich die Mutter Dorofeja jeden Abend vor dem Schlafengehen geißelte.
»Für meinen Herrn muß ich jeden Tag leiden«, erklärte sie.
Als wir die ersten Schläge hörten, liefen wir zu ihrer Kammer. Zuerst vernahm man ein langes Murmeln, dann das Rascheln der Kleider, einen Schlag, und nachher ein leises Stöhnen. Wahrscheinlich schlug sie sich mit irgendeiner Kette, denn man hörte dabei ein Klirren wie von Eisen. Bleich und zitternd standen wir vor der Türe, und als wir es nicht mehr aushielten, liefen wir in unser Schlafzimmer zurück.
»Ach, wie schwer ist es, eine Heilige zu sein!« rief Natascha einmal aus. »Nichts essen, auf Stroh schlafen, sich geißeln! . . . Aber die Mutter Dorofeja hat mir gesagt, wenn ich mich brav aufführe, komme ich auch in den Himmel. Wozu soll ich mich dann plagen und schinden?«
Jedesmal, wenn die Mutter Dorofeja zu uns kam, war es ein Ereignis für mich. Ich wich fast keinen Schritt von ihr. Während sie saß und las, blickte ich sie unverwandt an. Mich erfaßte es tief, daß ihr ganzes Leben ein Aufschwung war, ein Emporsteigen, ein Kreuz, das sie nur deswegen tragen mußte, weil sie es sich selbst auferlegt. Wie oft haben ihr die Großeltern angeboten, bei ihnen zu bleiben. Sie hätte bei ihnen wohnen können, beten und lesen, soviel sie wollte, ohne daß sie auch nur einen Finger hätte rühren müssen. Aber nie verblieb sie länger als drei Tage, und dann verschwand sie wieder auf ein halbes Jahr, ein Jahr, manchmal auch auf zwei.
Einmal wagte ich es, sie zu fragen, woher sie die Kraft hätte, soviel Hunger, Kälte und Leiden zu ertragen. Lächelnd antwortete sie:
»Wer an Gott glaubt, kann alles ertragen.«
Diese Worte habe ich auch früher schon oft gehört, aber von ihr gesprochen, klangen sie viel tiefer, viel inhaltsreicher, viel wahrer. Vielleicht deshalb, weil dies bei ihr niemals bloße Worte waren, weil sie immer Wort und Tat verband. –
Nun, und jetzt habe ich im Traume gesehen, daß sie neben mir saß, mich mit ihren dunklen, braunen, rätselhaften Augen anblickte und sprach:
»Auch in deinem Leben ist Gutes und Böses. Jetzt ist es böse, bald wird das Gute kommen!«
Und dann trat wieder die Großmutter ins Zimmer und klagte der Mutter Dorofeja, daß ihr das Stubenmädchen Glascha ein Medaillon gestohlen habe, und fragte sie, was sie mit ihr beginnen solle; es sei ihr leid um sie, da sie eine Waise ist, eine Diebin könne sie aber doch nicht im Hause behalten. Aus dem Waisenhause habe sie sie genommen, immer ihr nur Gutes erwiesen, und jetzt hätte sie so an ihr handeln müssen.
»Verzeihen mußt du ihr«, sprach Mutter Dorofeja. »Du rettest eine Seele damit. Nicht der ist heilig, der niemals fällt, sondern der, der sich erheben kann, wenn er gefallen. Wenn du Glascha verjagst, wird sie immer tiefer sinken, wenn du ihr verzeihst, wird sie ihre Seele reinigen, weil sie sehen wird, daß du an sie glaubst.«
Die Mutter Dorofeja sagt zu allen »du« und wünscht auch, daß alle so mit ihr sprechen. Das »Sie« stellt nur eine Mauer auf zwischen den Menschen, behauptet sie.
»Sage mir du und verstecke nicht deine Seele vor mir! Ich gehe zum Grabe des Herrn, trage deine Gedanken mit mir und bete für dich. Nun, schau mir nur fest in die Augen, fest, ganz fest, in meine Augen hinein! Ich sammle überall die Blicke der Menschen zusammen, um sie dann vor dem Grabe des Herrn niederzulegen.«
Dieser Gedanke verwunderte mich aufs höchste, und als sie mein Staunen bemerkte, sagte sie:
»Da ist nichts zu verwundern!