Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa

Milchfrau in Ottakring - Alja Rachmanowa


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klopfen und mir allerhand Liebenswürdigkeiten zu sagen, von denen ich allerdings kein Wort verstehe, da er sie im reinsten Wiener Dialekt spricht. Das allerdings ist noch merkwürdiger, daß er das Hofieren dazu benützt, um mich möglichst zu betrügen, sei es beim Erstellen der Rechnung oder beim Zählen des Gebäcks. Überhaupt, das drückt mich ganz besonders nieder, daß man immer und überall von Betrug umgeben ist. So zum Beispiel heute: Zwei Männer kamen mit einer Kiste herein und wiesen mir eine Rechnung auf 76 Schilling vor.

      »Hier ist das Waschblau und die Seife, die Ihr Mann bestellt hat«, erklärten sie.

      »Das ist unmöglich«, entgegnete ich, »da mein Mann niemals im Geschäft ist.«

      Sie begannen zu schimpfen und drohten mit dem Gericht, als zum Glück gerade Otmar heimkam. Ich rief ihn ins Geschäft, aber als ich mich umdrehte, waren beide Männer mitsamt ihrem Waschblau bereits verschwunden.

      14. MÄRZ 1926

      Heute hatte ich Gelegenheit, eine Szene zu beobachten, die mich tief berührte.

      Es kam der junge Herr Resch, setzte sich zum Tischchen und begann, wie gewöhnlich, ein Gespräch mit mir zu führen. Er fragte mich aus, wie es in Rußland aussehe, erzählte von den Wildwestfilmen, die er im Kino sieht, schwärmte von Fußballmatchen und behauptete, er sei so stark, daß ihn niemand besiegen könne.

      Heute war er in seliger Stimmung und erzählte mir, daß er sein erstes Geld als Lehrbursche verdient habe, ganze vier Schilling. Drei Schilling fünfzig Groschen führte er an seine Mutter ab, fünfzig Groschen behielt er für sich. Dieses Kapital hat er beschlossen zu »vertun«, und zwar gerade bei mir, damit ich auch etwas an ihm verdienen könne. Diese Aufmerksamkeit des vierzehnjährigen Burschen war geradezu rührend. In seinem reinen, glattgebügelten Anzug, mit dem aus der Seitentasche hervorlugenden Taschentuch aus Seide und seinem peinlich frisierten Scheitel, stand er wie die Verkörperung aller Tugenden des deutschen Volkes vor mir da, seiner Gutherzigkeit, seines Familiensinnes, seiner Sparsamkeit und seiner Arbeitsliebe. Er erzählte, seine »Mutti« habe ihm durchaus einen ganzen Schilling belassen wollen, er habe aber erklärt, fünfzig Groschen wären genügend, er müsse doch auch etwas zum Haushalt beitragen. Und wie wichtig er sich fühlte – als wenigstens teilweise – Familienerhalter!

      Lange sprach er halblaut vor sich hin und erwog, was er sich um seine fünfzig Groschen kaufen solle, damit er möglichst viel, möglichst Gutes und dabei möglichst Nahrhaftes bekomme. Endlich entschloß er sich zu fünf Deka Extrawurst und einer Semmel, das er alles mit unglaublicher Langsamkeit verzehrte. Zum Abschluß kaufte er sich noch eine Rippe Schokolade.

      In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und herein flog der kleine Hansi, das Söhnchen eines Kaufmannes nebenan, eines der wenigen Kinder in dieser Gegend, denen es gut geht. Er bat mich, ihm einen Schilling zu wechseln.

      Der junge Herr Resch sah sich den kleinen Hansi eine Weile an und, ihm freundlich auf die Achsel klopfend, sagte er:

      »Du, Kleiner, such dir aus, was du willst!«

      Der Junge tat so, als ob sich dies ganz von selbst verstände. Mit ernstem, unbeweglichem Gesicht, keine Spur von Freude zeigend, suchte er sich eine Neapolitaner1 aus, sagte »Danke« und lief davon. Mich rührte diese Noblesse, mit der der Lehrbursch von seinem ersten Verdienst den kleinen Jungen bewirtet, dieser Drang, irgend jemandem etwas Angenehmes zu tun.

      Der junge Herr Resch zahlte mit wichtiger Miene und ging fort, gravitätischen Schrittes, die Mütze nach dem Muster Harry Piels1 schief auf die Stirn setzend. Wenn er wüßte, wie reizend er da war!

      1 Waffelschnitte.

      1 bekannter »Sensationsdarsteller« (Anm. d. Verlags).

      15. MÄRZ 1926

      Ich lebe jetzt zwei ganz getrennte Leben: eines am Tage in Österreich, im Geschäft, das andere nachts in Rußland.

      Was für ein Tag immer gewesen sein mag, wie viele Semmeln unverkauft blieben, wie viele Kunden mich mit den Milchflaschen betrogen haben mögen, abends, wenn ich meinen Kopf an die Brust Otmars gelegt und eingeschlafen bin, dann befinde ich mich wie mit einem Zauberschlage in Rußland. Das Merkwürdige dabei ist, daß meine Träume nicht wie ein Chaos durcheinandergeworfen sind, sondern daß sie im Gegenteil eine fast systematisch geordnete Reihe bilden. Wenn ich ins Reich des Traumes hinübergehe, dann öffne ich das Buch meines früheren Lebens gerade auf der Seite, an der ich die vorhergehende Nacht stehengeblieben bin. Und keine Spur von Phantasie ist in meinen Träumen. Die Wirklichkeit rollt vor meinen Augen ab, genau so, wie sie war, mit einer solchen Klarheit und einer solchen Deutlichkeit und Genauigkeit, daß ich einfach sagen kann, ich erlebe sie noch ein zweites Mal. Meine Backfischjahre sind es, die ich so von neuem lebe. Warum gerade sie? Ist dies ein Zufall? Oder hat es einen Sinn? Ist es vielleicht eine Selbstschutzmaßnahme meines Körpers, der Kraft für die Stürme schöpfen will, die ihn jetzt erschüttern, indem er in sich die Erlebnisse und Gemütszustände einer Zeit zurückruft, die für ihn sieghaftes Selbstvertrauen und sicheres Wollen bedeuteten?

      Immer haben Träume in meinem Leben eine ungeheure Rolle gespielt. Meine Träume, mein zweites Leben, das von meinem früheren Sein genährt wird, es wird mir helfen, mein jetziges reales Leben zu ertragen, das Leben in der Fremde, das mir phantastischer erscheint als der wüsteste Traum.

      Schon als ich mich schlafen legte, wußte ich, ich würde jetzt von der Mutter Dorofeja träumen. Und in der Tat, kaum hatte ich die Augen geschlossen, da trat sie zu mir, setzte sich an den Bettrand und sah mich starr an, so wie nur sie blicken konnte, mit ihren rätselhaften, dunkelbraunen Augen. Dann fragte sie mich:

      »Was? Ein zweites Leben willst du leben? Aus mir heraus willst du es haben, weil du mich so anstarrst?«

      Und mir schien, ich setzte mich langsam im Bette auf, und an der Stelle unseres kleinen Zimmerchens sah ich einen großen, hellen Raum mit hohen Fenstern, durch die der Klang der Osterglocken hereindrang. Auf dem Tische standen Kulitschen, Paßcha1, ein riesiger Schinken, eine geräucherte Gans, ein Ferkel mit Meerrettich und andere Dinge ohne Ende.

      Die Mutter Dorofeja sah mir in die Augen und lächelte. Niemals lacht sie, immer nur lächelt sie, ohne dabei die Lippen zu öffnen.

      »Am liebsten kriechen die Teufel durch einen lachenden Mund in die Seele«, erklärte sie immer.

      Die Mutter Dorofeja war eines der merkwürdigsten Wesen, denen ich je in meinem Leben begegnet. Ihre Persönlichkeit hat einen ganz tiefen Eindruck auf mich gemacht, wahrscheinlich eben deshalb, weil sie etwas so ganz außerordentlich Einzigartiges war.

      Niemand weiß, wann und woher sie gekommen ist. Die Großmutter erinnerte sich noch an sie, als sie selbst noch ein Mädchen war, und sie behauptete, daß die Mutter Dorofeja schon damals so ausgesehen habe, nicht ein bißchen anders als zu meiner Mädchenzeit. Ganz unerwartet ist sie immer aufgetaucht und ebenso unerwartet ist sie immer wieder verschwunden. Alle dachten, sie wäre einmal eine Nonne gewesen, weil sie immer schwarz gekleidet ging und eine Nonnenhaube trug. An der Brust hing ihr ein großes silbernes Kreuz.

      Die Mutter Dorofeja war sehr klein und ausgetrocknet wie ein dürrer Ast; das Gesicht war dunkelbraun, ihre Hand so klein und fein, daß man meinen konnte, sie gehöre zu irgendeiner alten Ikon. Das Merkwürdigste waren die Augen. Wenige Menschen vermochten ihren Blick auszuhalten. Sie blickte starr und unbeweglich drein, mit ernstem Gesicht, so, als wollte sie in den Augen derer lesen, die sie ansah. Der Schnitt ihrer Augen war mandelförmig, so wie man es auf alten persischen Miniaturen sieht, lange, dunkle Wimpern überschatteten sie und dichte, kohlschwarze Brauen gaben dem Gesichte einen eigenartigen, beinahe mystischen Ausdruck. Was für Haare sie hatte, konnte niemand sagen, da sie immer von der schwarzen Haube bedeckt waren.

      Die Mutter Dorofeja sprach sehr wenig, aber was sie sagte, suchten alle, die es hörten, in ihrem Gedächtnisse zu bewahren, denn alle waren fest davon überzeugt, daß ihre Aussprüche prophetischen Charakter trügen. Und alle ihre Voraussagungen haben sich tatsächlich immer unweigerlich erfüllt.

      Merkwürdig war es auch,


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