Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen

Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman - Christine von Bergen


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Sie müssen was tun«, sagte Thomas eine Viertelstunde später, als er wie ein Tiger im Käfig durch das Sprechzimmer des Landarztes lief. »Sophie will die Krankheit einfach ausblenden. Aber so geht’s doch nicht. Reden Sie mit ihr. Machen Sie ihr klar, dass sie ihr Leben nicht derart aufs Spiel setzen darf.« Atemlos hielt er inne und sah Matthias Brunner erwartungsvoll und zugleich voller Verzweiflung an.

      »Hat sie eine Biopsie machen lassen?«, fragte der Landarzt ruhig.

      »Biopsie?«

      »Eine Knochenmarkpunktion. Sie ist der zweite Schritt zur Verhärtung einer solchen Diagnose.«

      Mit einem tiefen Seufzer, der den eisernen Ring um seine Brust auch nicht sprengen konnte, strich Thomas sich das Haar aus der Stirn. »Ich weiß nicht. Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich kenne mich in solchen Dingen ja auch nicht aus.«

      Matthias Brunner nickte.

      »Ich sag dir jetzt was«, begann er in väterlichem Ton. »Sophie schläft erst mal. Fahr in dein Geschäft und beruhige dich. Wenn du ihr helfen willst, darfst du deine innere Stärke und Kraft nicht verlieren. Ich werde mit ihr sprechen, wenn sie wieder wach ist und es ihr hoffentlich besser geht. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie gestern erst einen schweren Unfall gehabt hatte. Der Schock darüber sitzt ihr natürlich auch immer noch in den Knochen. Sie bekommt zurzeit von mir ein Aufbaumittel, das auch ihre Nerven stärken wird. Und sie braucht viel Schlaf.«

      »Kann ich heute Nachmittag wiederkommen?«, fragte er.

      Der Landarzt lächelte ihn warmherzig an.

      »Klar kannst du wiederkommen. Die Liebe ist doch die beste Medizin.«

      *

      »Frau Wittmer ist aufgewacht«, teilte Schwester Gertrud Matthias Brunner gegen Mittag mit.

      »Wie viele Patienten haben wir noch?«, fragte er.

      »Sie haben Glück. Keinen mehr.«

      »Wenn bis Sprechstundenende nicht noch ein Notfall kommt, nehmen Sie bitte für heute auch keinen mehr an. Ich brauche Zeit für Frau Wittmer.«

      Matthias übersah den erstaunten Blick seiner Sprechstundenhilfe. Er wusste nur zu genau, warum sich die gute Gertrud wunderte. Eine solche Anweisung gab er ihr nur, wenn Leben in Gefahr war. Dass dies bei Sophie Wittmer tatsächlich der Fall war, wusste Schwester Gertrud ja noch nicht.

      »Wird erledigt«, erwiderte sie dennoch im Ton eines Befehlsempfängers. Dass sie dabei nicht salutierte, wunderte ihn.

      Diese Vorstellung entlockte ihm ein Schmunzeln, mit dem er das Krankenzimmer von Sophie betrat.

      »Wie fühlen Sie sich nach dem Schlaf?«, erkundigte er sich und setzte sich auf die Bettkante.

      Sie lächelte zurück. »Schon besser. Ein wenig erholter.«

      »So sollte es auch sein. Haben Sie Hunger?«

      Sophie spitzte die schön geschwungenen Lippen. »Vielleicht. Was gibt’s denn?«

      Er lachte. »Das, was meine Frau und ich auch essen. Schwarzwaldforelle, in Butter gebraten, mit Kartoffeln und Salat.«

      »Ich esse sehr gern Fisch.« Sophies Augen leuchteten auf.

      Sie hatte also Appetit. Das war schon einmal eine gute Voraussetzung für eine schnelle Genesung.

      »Dann hätten wir das geklärt«, sagte er zufrieden, stand auf und rief in den Gang hinein, der zur Praxis führte: »Schwester Gertrud! Bitte einmal Mittagessen für unsere junge Dame.« Er setzte sich wieder und schaute seine Patientin ernst an. »Können wir reden?«

      Er sah ihr an, dass sie sich jetzt in ihr Schneckenhaus zurückziehen wollte. Deshalb nahm er ihre Hand in seine und hielt sie fest. »Sophie, ich muss mir ein genaueres Bild von Ihrer Krankheit machen können. Dafür brauche ich mehr Informationen als nur den Laborbefund. Thomas hat mit mir gesprochen. Er ist verzweifelt. Vor Kurzem erst hat er die Liebe seines Lebens gefunden und will sie nicht wieder verlieren. Ich kann ihn verstehen. Es geht jetzt nicht mehr allein um Sie. Sie sind zu ihm zurückgekommen. Sie haben sich einen Menschen vertraut gemacht. Nun sind Sie auch für sein Seelenheil verantwortlich, so, wie er sich Ihnen gegenüber verantwortlich fühlt. Das bezeichnet man als Liebe.«

      Widersprüchliche Gefühlsregungen spiegelten sich auf dem ebenmäßig geschnittenen Frauengesicht wider. Dann bekam Sophie feuchte Augen. Ihre Hand drückte seine, als wollte sie sich an ihm festhalten.

      »Ich war geschockt, wie von Sinnen, als ich das Ergebnis der Blutanalyse erfuhr«, gestand sie ihm nun mit belegter Stimme. »Mein Arzt in Karlsruhe hatte ein großes Blutbild bei dem Labor in Auftrag gegeben, um die Ursache meiner Beschwerden zu erfahren. Niemals hätte ich mit so etwas gerechnet. Ich bin davon ausgegangen, ich wäre überarbeitet, und wollte eigentlich nur ein Stärkungsmittel bekommen.«

      »Und dann?«

      »Dann habe ich mir frei genommen und bin hierhergefahren. Ich musste allein sein, mich erst einmal selbst an den Gedanken gewöhnen. Meinen Vater und meine Schwester wollte ich nicht sofort mit dieser Nachricht belasten. Wir leiden ja alle noch unter dem Tod meiner Mutter. Und dann lernte ich Thomas kennen. Die Stunden mit ihm haben mich meine Krankheit vergessen lassen. Schließlich bekam ich Panik. Eine kranke Frau und ein kerngesunder Mann … Ich wollte ihm keine Belastung sein. Und ich wollte keine Diskussionen. Also habe ich Reißaus genommen.«

      »Und sind wiedergekommen«, fügte Matthias lächelnd hinzu.

      Sophie nickte. »Aber was soll das bringen?« Mit großen Augen sah sie ihn an.

      »Sie sind nicht allein. Mit einem Partner an der Seite lässt sich alles besser ertragen.« Er hob den Zeigefinger und meinte zwinkernd: »Glauben Sie mir, darin habe ich Erfahrung.« Dann wurde er wieder ernst. »Was hat die Knochenmarkpunktion ergeben?«

      Sophie schüttelte den Kopf. »Den Termin habe ich abgesagt. Ich bin stattdessen Hals über Kopf in den Schwarzwald gefahren.«

      Er hob die Brauen. »Aber Sie haben mir doch gestern den Krankheitstyp genannt. In der Regel gibt erst eine Biopsie Aufklärung über diese Form der Bluterkrankung.«

      »Dr. Schreiber hat mir diese Diagnose gestellt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat seine Praxis erst vor Kurzem eröffnet und arbeitet mit den modernsten Apparaten. Eine Großpraxis«, fügte sie mit mattem Lächeln hinzu. »Dort geht’s zu wie am Fließband.«

      Auch die modernste Technik konnte in diesem Fall keine Knochenmarkentnahme ersetzen. Das wusste Dr. Brunner nur zu gut. Doch er schwieg dazu. Die Art der Diagnosestellung seines Karlsruher Kollegen machte ihn höchst skeptisch.

      »Sophie …« In einer väterlichen Geste legte er seine Hand auf ihren Arm. »Ich würde Ihnen dringend zu einer Knochenmarkpunktion raten. Das ist keine große Sache, aber eine klarere Aussage als nur die Auszählung der Blutkörper. Und danach sollten wir uns die weiteren Schritte überlegen. Es müssen weitere Schritte erfolgen«, fügte er mit eindringlichem Blick hinzu. »Ich lasse nicht zu, dass Sie Ihr junges Leben aufs Spiel setzen.« Dann lächelte er sie wieder an und meinte: »So, und jetzt essen Sie erst einmal. Danach schlafen Sie noch eine Runde, und dann wird auch Thomas schon wieder bei Ihnen sein.«

      *

      Die Sprechstunde war zu Ende. Statt sofort zum Haus hinüberzugehen, setzte sich Matthias erst einmal wieder an seinen Schreibtisch, lehnte sich zurück und streckte die langen Beine von sich.

      Wie konnte der junge Kollege aus Karlsruhe ohne den Befund einer Punktion eine solch detaillierte Diagnose stellen? Aus Unerfahrenheit? Zu spontan? Selbstüberschätzung? Ein Versehen oder gar eine fatale Verwechslung?

      Großraumpraxis, hatte Sophie gesagt. Da war der Patient eine Nummer ohne Gesicht. Klar, der Laborbefund ließ keinen anderen Schluss zu als diese gefährliche Blutkrankheit.

      Er schaltete die Gegensprechanlage ein.

      »Gertrud? Wir haben Frau Wittmer gestern nach dem Unfall Blut abgenommen zur Bestimmung ihrer Blutgruppe und des Hämoglobinwertes.


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