Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen
Arztmantel, die stets griffbereit an der Garderobe hing. »Bereiten Sie alles für eine Notoperation vor. Rufen Sie die Anästhesistin an. Sie soll sich bereit halten. Und sagen Sie den Leuten im Wartezimmer Bescheid. Und meiner Frau. Ich melde mich vom Unfallort.«
*
Begleitet vom prasselnden Regen und zischenden Blitzen fuhr Matthias Brunner zu der Unglücksstelle, die schon von Weitem durch das Blaulicht der Polizeiwagen auf sich aufmerksam machte. Inzwischen war auch die Feuerwehr aus Ruhweiler eingetroffen, die von der Hauptwache einen kürzeren Weg hatte als er. Die Männer waren bereits dabei, die entwurzelte Fichte von der Straße zu räumen, so dass er freie Zufahrt hatte.
Matthias seufzte.
Es kam nicht oft vor, dass er zu solchen Unglücken gerufen wurde. Meistens brauchte man ihn bei Unfällen im Wald oder auf den Bauernhöfen. Dort ging es auch oft um Leben und Tod. Deshalb hatte er vor Jahren einen kleinen Operationssaal und ein Krankenzimmer angebaut. Für die Fälle, für die der Transport ins nächste Krankenhaus das sichere Todesurteil bedeutete.
*
Ein junger Polizist winkte den Landarzt durch die Absperrung.
Das sah wahrlich schlimm aus.
Der rote Kleinwagen stand mit eingedrücktem Kühler frontal am Baum. Wie daran genagelt. Auf dem Autodach lag ein Ast, dessen Aufprall das Metall jedoch standgehalten hatte.
»Die Fahrerin ist bewusstlos«, sagte Ralf Messmer. »Äußerlich zeigt sie keine schweren Verletzungen. Wir haben jedoch nicht gewagt, sie zu bewegen, weil wir nicht abschätzen können, ob ihre Wirbelsäule eventuell gebrochen ist.«
Matthias nickte.
Sehr umsichtig, lobte er seinen Bekannten stumm.
Er trat an die Fahrertür – und zuckte kurz zurück.
Das Unfallopfer war Sophie Wittmer.
Eine Sekunde später hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er beugte sich in den Wagen hinein und tastete nach Sophies Handgelenk.
Pulsschlag schwach, aber gleichmäßig, die Herzgeräusche normal. Unmittelbare Lebensgefahr bestand also nicht. Die Ohnmächtige hatte feine Schnittwunden im Gesicht und am Hals, durch die Glasscherben hervorgerufen. Nichts Schlimmes. Eine schwere Gehirnerschütterung bestand jedoch mit Sicherheit.
Als Nächstes machte er sich ein Bild von ihren Beinen. Die befürchtete Schlaffheit konnte er nicht feststellen, was ihm bezüglich einer Wirbelsäulenverletzung Entwarnung gab. Dann untersuchte er Sophies Schleimhäute und atmete auf. Keine bläuliche Verfärbung, die stets ein Zeichen für innere Blutungen waren.
Sollte Sophie Wittmer so viel Glück gehabt haben?
Er schickte einen dankbaren Blick zu dem schwarzen Himmel.
Ein sanftes Klopfen auf ihrer Wange zwang Sophie, die Augen zu öffnen. Ganz langsam hob sie die Lider. Die Umgebung kam ihr fremd vor.
»Wo bin ich?«
»In meiner Praxis«, sagte eine sympathisch klingende Männerstimme.
Sie drehte den Kopf, wobei sie einen stechenden Schmerz empfand. Übel war ihr. Sie schmeckte Blut.
»Erinnern Sie sich noch an mich?«, fragte der Mann mit dem graumelierten Haar. Er trug einen Arztmantel. Seine braunen Augen sahen sie warmherzig an. »Matthias Brunner. Ich habe Ihren Fuß behandelt.«
Ja, sie erinnerte sich. Sie wollte sich aufrichten, doch sie fühlte sich zu schwach.
»Bleiben Sie bitte liegen. Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung.«
Gehirnerschütterung? Da fielen die Erinnerungen bruchstückhaft über sie her. Sie war auf dem Weg zu Thomas, das Gewitter, der Blitzeinschlag, die Vollbremsung …
Leise stöhnte sie auf. Wieder sah sie den dicken Baumstamm auf sich zukommen, ohne ihm ausweichen zu können.
»Ich hatte einen Unfall.« Ihre Stimme klang belegt.
»Und keinen leichten«, ergänzte der Landarzt ernst. »Aber Sie haben einen tüchtigen Schutzengel gehabt, der Schlimmeres verhindert hat. Ein paar Tage und Sie können wieder aufstehen.«
Ihr Kopf dröhnte. Bei der kleinsten Bewegung schnitten tausend Dolche durch ihre Brust. Sie legte die Hand auf ihre Rippen.
»Der Airbag. Das gibt sich wieder«, tröstete Dr. Brunner sie.
»Und jetzt?« Noch einmal versuchte sie, sich aufzurichten. Wieder wurde ihr speiübel.
»Sie brauchen Ruhe.« Der Arzt schien ihr anzusehen, was in ihr vorging.
»Aber …« Was sollte das heißen?
»Ich werde Sie diese Nacht hier behalten. Zur Kontrolle. Eine schwere Gehirnerschütterung muss beobachtet werden. Wenn sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden keine Hämatome bilden, ist die Gefahr gebannt.«
»Hier in der Praxis?«, fragte sie erstaunt.
Dr. Brunner nickte mit selbstverständlicher Miene. »Wir haben für Notfälle dieses Krankenzimmer.« Schmunzelnd sah er sich um. »Ich finde es recht gemütlich hier. Und zum Frühstück gibt’s frische Landeier.«
»Ich mag keine Eier«, sagte sie matt.
Sie schloss die Augen. Obwohl in ihrem Schädel tausend Trommeln schlugen, fiel ihr ihre Situation jäh wieder ein.
Sie musste Thomas wiedersehen, mit ihm reden. Der Befund in ihrer Handtasche …
»Was ist?«, hörte sie den Arzt besorgt fragen.
Sie öffnete die Augen.
»Sie sehen so erschrocken aus. Noch bleicher als vorher.«
»Schutzengel …« Ein kurzes hartes Lachen kam ihr über die Lippen, woraufhin sich ihr Kopf umgehend rächte. »Einen tüchtigen Schutzengel, sagten Sie …«
Der Landarzt blinzelte sie sichtlich verwirrt an. Dann lächelte er warmherzig. »Sie leben.«
»Aber wie lange noch?« So, jetzt war es ausgesprochen. Nun stand die Wahrheit im Raum, in diesem kleinen gemütlichen Krankenzimmer. Und plötzlich fühlte sie sich trotz aller Schmerzen erleichtert. Ihr war zumute, als hätte sie gerade eine Zentnerlast von den Schultern abgeworfen.
»Wie meinen Sie das?«
»Wie ich’s gesagt habe.«
»Sie sind also krank.« Dr. Brunners Blick lag prüfend auf ihrem Gesicht.
Sie nickte und sprach zum ersten Mal die Diagnose aus, die ihr Karlsruher Arzt ihr gestellt hatte.
»Diese Krankheit kommt höchst selten bei Erwachsenen vor.« Matthias Brunner sah sie erstaunt an. »Sie trifft in der Regel nur Kinder.«
»Laut Laborbericht bin ich ein solch seltener Fall. Meine Mutter ist auch daran gestorben, jedoch an einem anderen Typ.« Sie zeigte auf den bunt bemalten Bauernschrank. »Falls meine Handtasche dort drin ist, können Sie den Befund lesen. Aber bitte …« Panik überfiel sie. »Bitte, ich will es Thomas Seeger selbst sagen. Nicht Sie. Darum bin ich zurückgekommen. Ich habe mich nicht gerade fair ihm gegenüber verhalten, weil ich …«
Ihr fehlte die Kraft weiterzusprechen. Sie schloss die Augen. In ihrem Kopf hämmerte es. Das Reden, das Atmen bereiteten ihr Schmerzen in der Brust. Ihr Gesicht brannte, fühlte sich geschwollen an. »Als Arzt stehen Sie unter Schweigepflicht«, flüsterte sie nur noch.
»Auch ohne diese Pflicht würde ich Ihren Wunsch akzeptieren«, antwortete Dr. Brunner mit sanft klingender Stimme. Dabei legte er seine große warme Hand auf ihre und drückte sie behutsam. »Schlafen Sie erst einmal, Frau Wittmer. Ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel. Und wenn Sie wieder aufwachen, reden wir weiter.«
Da atmete sie erleichtert aus. Ja, schlafen …
Sie schloss die Augen und spürte kaum den Einstich der Spritze, die ihr half, ihren aufgewühlten Geist zu beruhigen und die