Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen
»Ach, Matthias …« Dann beugte sie sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange. »Du bist immer noch ein Romantiker«, flüsterte sie zärtlich.
»Schlimm?«
»Überhaupt nicht. Kommt mir ja auch zugute.«
»Genau.«
»Aber bitte übernimm dich nicht wieder. Die Zeit reicht kaum aus, dich um die körperlichen Leiden deiner Patienten zu kümmern. Dabei kannst du nicht auch noch den Liebesboten spielen.«
Er lachte und strich ihr sanft über den Nasenrücken.
»Körper und Seele gehören zusammen, mein Schatz.«
»Hat Thomas seine Liebste denn erreicht?«
»Sie war nicht zu Hause. Er hat den Verdacht, dass sie bereits gebunden ist.«
»Der Arme. Aber wie ich ihn einschätze, wird er alles tun, um sich Klarheit zu verschaffen.«
»Sie wirkte krank auf mich«, murmelte der Arzt, während er die Hand seiner Frau streichelte und seinen Blick dabei in die Nacht schweifen ließ, die jedes Geheimnis hütete. »Ihre Blässe mochte ja von den Schmerzen herrühren oder von einer Überarbeitung, aber der Ausdruck in ihren Augen. Ich hatte den Eindruck, als ob ihre Seele leiden würde.«
»Vielleicht lebt sie ja in einer unglücklichen Ehe. Was erklären würde, dass sie sich in Thomas verliebt hat. Wenn man mit seinem Partner glücklich ist, passiert so etwas nicht.«
Er sah seine Frau an, wie sie so nah neben ihm saß, ihr Blick selbst nach den vielen Jahren immer noch mit Liebe und Zärtlichkeit auf ihm lag.
»Würde es dir passieren können?«
»Nein«, erwiderte sie mit der weichen sanften Stimme, die er noch so gut aus der Zeit vor seiner Erkrankung kannte.
Und plötzlich lag etwas in der lauen Nachtluft, was er lange nicht mehr gespürt hatte.
Warum eigentlich nicht?, sagte er sich. Er fühlte sich gesund. Kerngesund.
Langsam beugte er sich zu Ulrike hinüber, zog ihr Gesicht zu sich heran und küsste sie zum ersten Mal wieder nach seiner Krankheit lang und innig. Sie gab ihm den Kuss genauso innig zurück.
Ja, auch das gehörte zum Leben eines gesunden Mannes, dachte der Landarzt mit glücklichem Lächeln, als er mit seiner Frau eng umschlungen ins Haus ging. Die Liebe … Sie war nicht nur das Monopol der Jungen.
*
Sophie hatte den Zug in Karlsruhe bestiegen – und ihn in Mainz wieder verlassen. Auf dieser Strecke war ihr bewusst geworden, dass sie das falsche Ziel ansteuerte. Sie wollte ihren Vater und ihre Schwester besuchen, sich bei ihnen alles von der Seele reden, was sie belastete. Und sie wollte die beiden um Rat fragen.
Wie sollte sie in Anbetracht ihrer Situation mit ihrer Liebe zu Thomas umgehen?
Während sie die Landschaft an sich vorbeirauschen sah, genauso wie rückblickend ihr kurzes Leben, und sie an den geliebten Mann dachte, wurde sie sich immer deutlicher dessen bewusst, was sie ihm mit ihrer plötzlichen Abreise angetan haben musste. Wie fühlte er sich jetzt? Was dachte er von ihr? Bestimmt nicht das Beste und sicherlich das Falsche. Sie hatte ihn zurückgelassen in dem Glauben, sie hätte ihm Gefühle vorgespielt. Nein, diesen Eindruck konnte sie nicht so stehen lassen. Sie hatte ihn schützen, ihm Kummer ersparen wollen, aber würde er nicht allein schon unter der Annahme leiden, sich in ihr getäuscht und seine Gefühle an sie verschwendet zu haben?
Ich muss einen Weg finden, alles ins Reine zu bringen, nahm sie sich vor. Dass sie diesen Weg nur allein finden konnte, wurde ihr kurz vor Mainz klar.
So kam es, dass Sophie am Nachmittag wieder in Karlsruhe eintraf und sich am nächsten Tag mit neu gewonnener Kraft und voller Entschlossenheit, Thomas die Wahrheit anzuvertrauen, auf den Weg nach Ruhweiler machte.
*
An diesem windigen Morgen schaute die Sonne kaum einmal zwischen den schnell dahin treibenden Wolkenmassen heraus. Nun verkroch sie sich jedoch endgültig hinter den Hügeln des Schwarzwaldes, die vor Sophie auftauchten.
Nachdem sie die Autobahn verlassen hatte, fuhr sie den dunklen Wolkengebilden entgegen. Bald strichen die ersten heftigen Böen durch das Tal, das bei schönem Wetter eines der beliebtesten Ausflugsziele der Gegend war. Der Wind schüttelte an den Bäumen. Das lange Gras zu beiden Seiten der Landstraße duckte sich auf den Boden.
Besorgt blickte Sophie in die Richtung, aus der sich das Gewitter näherte, das seine Blitze in immer kürzeren Abständen in die bewaldeten Berge hinunter jagte. Das Unwetter musste ungefähr über Ruhweiler toben. Genau dort, wo sie hin wollte.
Aus der Ferne vernahm sie schon das erste bedrohlich klingende Grummeln. Und dann fielen die ersten dicken Tropfen. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto stärker prasselte der Regen gegen ihre Windschutzscheibe. Im Nu bildeten sich Wasserlachen auf dem Asphalt, die unter den Reifen wie Fontänen aufspritzten.
Sophie drosselte die Geschwindigkeit. Dann geschah es:
Ein gleißender zuckender Blitz jagte vom Himmel auf die Erde. Nur ein paar Meter vor ihr. Sie hörte den ohrenbetäubenden Schlag, mit dem er in eine der Fichten am Straßenrand einschlug, sah Baumrindenstücke durch die Luft fliegen und trat auf die Bremse. Während die Fichte krachend alles mit sich riss, was im Wege stand, brach ihr Wagen aus der Spur und machte sich selbstständig. Sie bremste noch einmal, und noch einmal. Doch ihr Auto schoss auf dem Wasser steuerlos auf die Bäume zu. Sie wollte schreien, brachte jedoch keinen Ton hervor. Wie eine Zuschauerin nahm sie Tausende von kleinen Feuerblitzen wahr, verspürte selbst im Wageninnern die ungeheure elektrische Spannung, die alles um sie herum zum Knistern brachte, sah Flammen züngeln. Dann ein Krachen über ihr, auf dem Wagendach.
Ein herabgestürzter Ast, schoss, ihr durch den Kopf, bevor sie einen Aufprall verspürte, der ihren Körper zu zerreißen drohte. Gleichzeitig vernahm sie ein Klirren. Schließlich explodierte der Airbag. Er erdrückte sie, nahm ihr die Sicht.
Das alles erfolgte in Bruchteilen einer Sekunde. Diese Zeit kam ihr jedoch vor wie eine Ewigkeit. Ein stechender Schmerz. Sie schrie auf, wollte gegen den Druck im Kopf, gegen das Rauschen in den Ohren ankämpfen.
Da zog sie eine unsichtbare Hand in einen Sog hinein, an dessen Ende sie ein schwarzes Loch verschluckte.
*
Dr. Brunner stellte gerade einem Patienten ein Rezept aus, als das Telefon klingelte.
»Was gibt’s?«, fragte er in die Gegensprechanlage.
»Polizeihauptwachtmeister Messmer will Sie gerne sprechen«, teilte Schwester Gertrud ihm mit Grabesstimme mit.
»Stellen Sie ihn durch.« Er lächelte seinem Patienten zu und machte ihm ein Zeichen, dass er sich noch gedulden möge.
»Ralf?«
»Ein Unfall auf der Landstraße zwei Kilometer vor Ruhweiler«, sagte Ralf Messmer, den er seit seiner Schulzeit kannte. »Eine Verletzte. Sie ist bewusstlos. Ein Rettungswagen aus dem Kreiskrankenhaus ist auf dem Weg. Aber bei dem Wetter weiß man nicht, wie lange er braucht. Zumal das Gewitter Schaden angerichtet hat …«
»Ich komme«, schnitt Matthias ihm das Wort ab. »Wo genau?«
Sein Bekannter beschrieb ihm die Lage der Unglücksstelle.
»Entschuldigen Sie, aber ich muss zu einem Notfall«, sagte Matthias zu seinem Patienten, nachdem er aufgelegt hatte. Er sprach ganz ruhig, wie es seine Art war. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass dieser Mann mit seinen leichten Beschwerden plötzlich unwichtig für ihn war, denn er nahm jeden Patienten ernst. »Schwester Gertrud wird Ihnen das Rezept ausstellen«, fuhr er fort, während er aufstand. »Wir sehen uns in drei Tagen zur Kontrolle wieder. Lassen Sie sich bitte von der Sprechstundenhilfe einen Termin geben.«
Mit pochendem Herzen und rasendem Puls ging er zur Rezeption.
Wenn der Krankenwagen wegen des Unwetters zu lange brauchen