Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen
dem Spaziergang eindeutig zu viel zugemutet. Ihre neuen Wanderschuhe waren bleischwer. Sie war über einen Stein gestolpert und dabei umgeknickt. Der Knöchel schmerzte, als würde er von Messern zerschnitten.
Sophie Wittmer seufzte. Dann zuckte sie mit den Schultern.
Was war ein verstauchter oder gebrochener Fuß gegen die Nachricht, die noch wie ein Dolch in ihrem Herzen saß?
Sie schaute hoch zu dem unendlich weiten Himmel, der türkisfarben zwischen den Fichten hervorblitzte. Rosé Wolken segelten an ihm dahin. Welch eine Idylle! Stille umfing sie. Keine Totenstille, nein. Eine lebendige Stille, begleitet von dem leisen Rauschen der Tannen, dem Ruf eines Vogels, dem Rascheln im Unterholz.
Nun gut, sagte sie sich schicksalergeben. Wenn mich heute Abend niemand mehr finden sollte, werde ich die Nacht hier verbringen. Warm sollte es werden. Wo war das Problem? Die Zeiten, in denen sie in Hotelsuiten übernachtet hatte, würden sowieso bald vorbei sein. Spätestens, wenn ihr Chef die Wahrheit erfahren würde. Und irgendwann würde es so weit sein.
Eine Männerstimme, die wie aus weiter Ferne an ihr Ohr drang, ließ sie in ihren Gedanken innehalten. Eine angenehme, warm klingende Stimme.
Sie blickte über die Schulter zurück.
Thomas glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Die Frau vor ihm war wunderschön. Eine schlanke Blondine. Engelshaar. Und Augen, die die Farbe des Abendhimmels hatten. Niemals zuvor hatte er solche Augen gesehen. Von langen dunklen Wimpern umrahmt sahen sie ihn an. Aber mehr noch als das Aussehen dieser Fremden berührte ihn der Ausdruck in ihren Augen. Ihm war zumute, als würde er mit seinem Blick in ein Meer von Traurigkeit, von Hoffnungslosigkeit eintauchen. Und blass war sie auch. Krank sah sie aus.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, während er versuchte, der Verwirrung Herr zu werden.
Nicht nur der Verwirrung darüber, diesen Engel hier vor sich auf dem Boden sitzen zu sehen, sondern auch über das Gefühlschaos, das sich in seinem Herzen ausbreitete.
Sie lachte leise. Belustigt. Oder eher verbittert?
»Ich bin ein hoffnungsloser Fall«, gab sie ihm lächelnd zur Antwort, wobei dieses Lächeln ihre wunderschönen Augen nicht erreichte.
»Haben Sie sich den Fuß gebrochen?« Dabei zeigte er auf ihre feingliederigen Hände, die ihren rechten Knöchel umschlossen hielten.
»Ich weiß nicht. Vielleicht verstaucht.«
Ihre Stimme klang weich. Sie passte zu ihr.
»Darf ich mal?« Entschlossen kniete er sich neben sie. »Ich bin Sportler und kenn mich mit so was ein bisschen aus.« Sanft löste er ihre Finger und betastete vorsichtig das geschwollene Gelenk. »Können Sie es bewegen?«
Ihre Augen schauten ihn von unten an. Zwei Seen, geheimnisvoll und tief, in denen man ertrinken konnte.
Während sie den Fuß drehte, zeigte sich der Schmerz auf ihren regelmäßig geschnittenen Zügen. Doch sie gab keinen Laut von sich. Tapferes Mädchen.
Er räusperte sich. »Wann ist es passiert?«
»Wann?«
»Wie lange sitzen Sie schon hier?«
»Ich weiß nicht …«
Sie runzelte die Stirn. Ihr Blick schweifte zum Himmel.
»Sie müssen doch wissen, wie lange Sie hier schon auf dem Boden hocken.« Seine Stimme klang nun energischer.
Eine merkwürdige Person.
»Ja, natürlich.« Sie lachte etwas zu laut. »Vielleicht fünf Minuten. Die Schwellung entstand ein paar Sekunden später, nachdem ich umgeknickt bin.«
»Sind Sie allein unterwegs?«
»Sehen Sie jemanden?« Jetzt lächelte sie ihn an, spitzbübisch, einfach hinreißend.
»Nein.« Er hielt ihren Blick fest, zwei, drei Herzschläge lang, dann wurde ihm plötzlich heiß.
Er hatte schon vielen hübschen Frauen in die Augen gesehen, aber noch nie war ihm die Situation dabei so intim vorgekommen. Was war denn bloß mit ihm los?
Er stand auf, zog sein Handy aus der Gürteltasche.
»Ich werde Dr. Brunner anrufen. Er wird Sie abholen. Der Fuß ist nicht gebrochen, so weit ich das als Laie feststellen kann. Vielleicht ein Bänderriss. Auf alle Fälle können Sie nicht weitergehen.«
Sie nickte stumm, hielt den Kopf gesenkt.
»Übrigens, Thomas Seeger«, stellte er sich vor, um etwas Normales zu tun.
Er hatte das Gefühl, sich in einer völlig unwirklichen Situation zu befinden. Dieser Engel schien vom Himmel gefallen zu sein und sich hier auf Erden nicht richtig zurechtzufinden. Die schöne Blonde wirkte abwesend, zerstreut. Ihr verletzter Knöchel schien sie gar nichts anzugehen.
»Sophie Wittmer«, sagte sie und lächelte zu seiner Erleichterung nun doch wieder zu ihm hoch. »Klingt so, als würden Sie von hier stammen«, fügte sie hinzu.
»Stimmt. Der Name Seeger ist ein alteingesessener Name im Schwarzwald.« Er sah sich um, fühlte sich unwohl dabei, von hoch oben auf sie herunterzuschauen.
»Darf ich?«, fragte er und setzte sich kurzerhand neben sie auf den weichen Waldboden.
»Bitte schön«, meinte sie mit einladender Geste.
Er machte es sich im Schneidersitz gemütlich. »Und Sie? Touristin?«
Sie nickte.
Jetzt erst fiel sein Blick auf die Kamera, die neben ihr auf der staubigen Erde lag.
»Fotografin?«
»Nein, Journalistin.«
»Journalistin? Bei welcher Zeitung?«
»Keine Zeitung. Datenagentur. Ressort Kulturelles.« Sie seufzte. »Ständig unterwegs.«
»Dann genießen Sie bestimmt die Ruhe hier bei uns.«
Sie gab ihm keine Antwort, sah nur wieder hoch zum Himmel.
Sophie konnte den Blick aus den dunklen Männeraugen kaum mehr ertragen. Thomas Seeger strahlte Lebensfreude aus. Etwas Klares, Starkes, das sie auf Anhieb in seinen Bann gezogen hatte. Verrückt. Völlig verrückt.
Bis vor ein paar Minuten hatte sie gar nichts genossen. Weder die Ruhe hier noch sonst etwas. In ihrem Leben gab´es seit Kurzem nichts mehr zum Genießen. Während des Wanderns hatte sie eine schnörkellose Bestandsaufnahme gemacht: Beruflich erfolgreich, ein inniges Verhältnis zu Vater und Schwester, ein Freundeskreis, ein paar Männer, die keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatten, leider keine Kinder. Und dann gab es da seit ein paar Tagen etwas, an das sie am liebsten gar nicht dachte, das sie jedoch Schritt für Schritt wie ein dunkler Schatten begleitete.
Kurz bevor sie mit dem Fuß umgeknickt war, hatte sie sich schon fast in ihr Schicksal gefügt. Aber jetzt, nachdem sie in diese samtbraunen Augen dieses Mannes gesehen hatte, spürte sie zum ersten Mal wieder seit Tagen, wie sich tief in ihr etwas regte. Schade. Thomas Seeger war zum ungünstigsten Zeitpunkt in ihr Leben getreten. Zu spät.
Und wieder verfingen sich ihre Blicke. Sie konnte gar nicht anders, als ihn noch einmal anzusehen. Er lächelte, warm und weich. Energie begann zwischen ihnen zu fließen, Schwingungen erfüllten die laue Abendluft, ein Knistern wie von Elektrizität. Ein Wunder.
Sie räusperte sich, setzte sich aufrecht hin und zeigte auf das Handy in seinen Händen.
»Der Arzt.«
Er zuckte zusammen, als würde er aus einem Traum aufwachen. »Klar, entschuldige.«
Er duzte sie, was sie amüsierte.
»Macht nichts«, erwiderte sie lächelnd.
Er tippte eine Nummer ein, wartete, während er sie wieder ansah, und sagte dann ins Mikrofon: »Dr. Brunner? Ich bin’s, Thomas Seeger.«