H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
einen Hauch aus dem Loch, und dann legte sich das Ungeheuer wie ein Schiff über und schleppte sich am Boden hin, indem es seine ganze ledrige Haut knitterte, wälzte sich von neuem und wogte so schwerfällig an uns vorbei, indem es sich mitten durch das Gestrüpp einen Pfad brach, dass es uns bald hinter seinem dichten Wirrwarr verbarg. Ein zweites erschien in größerer Ferne, und dann ein drittes; und dann kam, als führe er diese lebendigen Vorratsmassen auf ihre Weide, auf einen Augenblick ein Selenit in den Gesichtskreis. Der Griff, mit dem ich Cavors Fuß gefasst hielt, wurde bei seinem Anblicke krampfhaft, und wir blieben regungslos und spähten aus, noch lange nachdem er aus unserm Bereich verschwunden war.
Im Gegensatz zu den Mondkälbern schien er ein winziges Wesen, eine bloße Ameise, kaum fünf Fuß hoch. Er trug Kleider aus einer ledrigen Substanz, sodass kein Teil seines wirklichen Körpers erschien, aber davon hatten wir natürlich keine Ahnung. Er stellte sich also als ein kompaktes, borstiges Geschöpf dar, das viel von einem komplizierten Insekt hatte, mit peitschenartigen Tastern und einem klingenden Arm, der aus seiner leuchtenden, zylindrischen Leibeshülse hervorragte. Die Form seines Kopfes war durch seinen ungeheuren vielspitzigen Helm verborgen – später entdeckten wir, dass er die Spitzen benutzte, um widerspenstige Mondkälber zu stacheln – und eine Brille, deren dunkel gefärbte Gläser stark auf den Seiten standen, gaben dem metallischen Apparat, der ihm das Gesicht bedeckte, etwas Vogelartiges. Seine Arme fielen nicht über seine Körperhülse hinaus herab, und er trug sich auf kurzen Beinen, die trotz ihrer warmen Deckhüllen unseren irdischen Augen ungehörig schwach erschienen. Sie hatten sehr kurze Ober-, sehr lange Unterschenkel und kleine Füße.
Trotz seiner schwer aussehenden Kleidung bewegte er sich mit Schritten vorwärts, die vom irdischen Standpunkt aus sehr beträchtlich wären, und sein klirrender Arm war geschäftig. Die Art seiner Bewegung während des Moments, in dem er vorüberflog, deutete auf Hast und auf einen gewissen Zorn, und bald nachdem wir ihn aus den Augen verloren hatten, hörten wir das Brüllen eines Mondkalbs unvermittelt in ein kurzes, scharfes Quieken übergehen, dem das Getöse seiner Beschleunigung folgte. Und allmählich verzog sich das Brüllen und kam dann zu einem Schluss, als wären die gesuchten Weiden erreicht.
Wir lauschten. Eine Zeit lang war die Mondwelt still. Aber es dauerte einige Zeit, ehe wir unser Kriechen und die Suche nach der verschwundenen Sphäre wieder aufnahmen.
Als wir das nächste Mal Mondkälber sahen, waren sie etwas von uns entfernt, auf einem Plateau von wirren Felsen. Die weniger senkrechten Flächen der Felsen waren dick besetzt mit einer gefleckten grünen Pflanze, die in dichten moosigen Klumpen wuchs, von denen diese Geschöpfe weideten. Wir hielten bei ihrem Anblick am Rande der Rohre an, durch die wir krochen, und spähten zu ihnen hinaus und blickten uns nach einem zweiten Seleniten um. Sie lagen wie riesige Faulpelze, stupende, fette Rümpfe, vor ihrem Futter und fraßen mit einer Art schluchzender Gier eifrig und geräuschvoll. Sie schienen Ungeheuer bloßen Fetts, bis zu einem Grade plump und wuchtig, dass ein Smithfield-Ochse daneben als ein Muster von Behändigkeit erschienen wäre. Ihre geschäftigen, sich windenden, kauenden Mäuler und ihre geschlossenen Augen ergaben zusammen mit dem appetiterregenden Geräusch ihres Kauens ein Bild tierischen Genusses, das unsere leeren Mägen merkwürdig anreizte.
»Schweine!«, sagte Cavor mit ungewöhnlicher Leidenschaft. »Ekelhafte Schweine!«, und nach einem Blick zornigen Neides kroch er durch die Büsche nach rechts hin fort. Ich blieb lange genug, um noch zu sehen, dass die fleckige Pflanze als menschliche Nahrung ganz hoffnungslos war, und kroch ihm dann nach, indem ich ein Stück davon zwischen den Zähnen kaute.
Bald darauf wurden wir wieder durch die Nähe eines Seleniten aufgehalten, und diesmal waren wir imstande, ihn genauer zu beobachten. Jetzt konnten wir sehen, dass die Bedeckung des Seleniten wirklich Kleidung war und nicht eine Art Schaltierüberzug. Er war in seinem Kostüme dem ersten, den wir flüchtig gesehen hatten, ganz gleich, nur, dass ihm die Enden von einer Art Wattierung aus dem Nacken ragten, und er stand auf einem Felsvorsprung und drehte den Kopf hierhin und dorthin, als überblicke er den Krater. Wir lagen ganz still, aus Furcht, seine Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, wenn wir uns bewegten, und nach einer Zeit lang drehte er sich um und verschwand.
Wir trafen auf eine weitere Herde von Mondkälbern, die eine Schlucht hinaufbrüllten, und dann kamen wir über einen Ort der Schalle, Schalle schlagender Maschinen, als käme hier eine riesige Industriehalle der Oberfläche nahe. Und während diese Töne noch um uns schwangen, kamen wir an den Rand eines weiten offenen Raums, der etwa zweihundert Meter im Durchmesser hatte und völlig eben war. Abgesehen von ein paar Flechten, die vom Rande her übergriffen, war dieser Raum nackt, und er zeigte eine pulverige Oberfläche von staubig gelber Farbe. Wir fürchteten uns, diese Fläche zu durchqueren, da sie aber unserm Kriechen weniger Hinderung entgegensetzte als das Gestrüpp, stiegen wir darauf hinab und begannen sehr vorsichtig an ihrem Rande entlang zu laufen.
Auf eine kleine Weile hörten die Geräusche von unten her auf, und alles war, abgesehen von dem leisen Regen der wachsenden Vegetation, sehr still. Dann begann unvermittelt ein Aufruhr, lauter, heftiger und näher als irgend etwas, was wir bislang gehört hatten. Ganz sicher kam er von unten. Instinktiv kauerten wir uns, so flach wir konnten, zusammen, bereit, rasch ins Dickicht neben uns zu tauchen. Jeder Schlag und Stoß schien durch unsere Körper zu schwingen. Dieses Pochen und Schlagen wurde lauter, und dies unregelmäßige Schwingen steigerte sich, bis die ganze Mondwelt zu rucken und zu pulsieren schien.
»Verstecken«, flüsterte Cavor und ich wandte mich zu den Büschen.
In dem Moment erfolgte ein Knall, wie der Knall einer Kanone, und dann geschah etwas – es verfolgt mich noch in meinen Träumen. Ich hatte den Kopf gewendet, um nach Cavors Gesicht zu sehen, und streckte die Hand dabei vor mich hin. Und meine Hand traf auf nichts! Tauchte plötzlich in ein bodenloses Loch!
Meine Brust stieß auf etwas Hartes, und ich sah, ich lag mit dem Kinn auf dem Rande eines unermesslichen Abgrunds, der sich plötzlich unter mir geöffnet hatte, die Hand ragte steif in die Leere. Jene ganze kreisrunde Fläche war nur ein riesenhafter Deckel, der jetzt nach der Seite hin von dem Loche, das er bedeckt hatte, in einen dafür gebauten Schlitz abglitt.
Wäre Cavor nicht dagewesen, ich glaube, ich wäre starr über diesem Rande hängen geblieben und hätte in den ungeheuren Abgrund darunter gestarrt, bis mich schließlich die Ränder des Schlitzes abgestreift und