H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

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–?«

      »Sie wer­den ver­blüfft sein«, sag­te Mr. Mar­vel hin­ter der Hand her­vor. »Es ist ko­los­sal.«

      »Was Sie sa­gen!«

      »Die Sa­che ist die«, be­gann Mr. Mar­vel eif­rig, mit ver­trau­li­chem Ge­flüs­ter. Plötz­lich än­der­te sich sein Ge­sichts­aus­druck voll­kom­men. »Au!«, rief er und rich­te­te sich steif auf; auf sei­nem Ge­sicht spie­gel­te sich kör­per­li­ches Lei­den. »Au weh!«

      »Was gib­t’s?«, frag­te der Ma­tro­se be­trof­fen.

      »Zahn­schmer­zen«, ant­wor­te­te Mr. Mar­vel und leg­te die Hand auf sei­ne Wan­ge. Er griff nach sei­nen Bü­chern. »Ich muss ge­hen«, sag­te er und rutsch­te in selt­sa­mer Wei­se auf der Bank von sei­nem Ge­nos­sen fort.

      »Aber Sie woll­ten mir doch ge­ra­de von die­sem un­sicht­ba­ren Men­schen er­zäh­len«, warf der Ma­tro­se ein.

      Mr. Mar­vel schi­en mit sich selbst zu Rate zu ge­hen.

      »Un­sinn«, sag­te eine Stim­me.

      »Es war nur Un­sinn«, sag­te Mr. Mar­vel.

      »Aber es steht in der Zei­tung«, wen­de­te der Ma­tro­se ein.

      »Nichts­de­sto­we­ni­ger ist es Un­sinn«, sag­te Mar­vel. »Ich ken­ne den Kerl, wel­cher die Lüge zu­erst ver­brei­te­te. Es gibt über­haupt kei­nen un­sicht­ba­ren Men­schen …«

      »Aber die Zei­tun­gen? Wol­len Sie da­mit sa­gen – –?«

      »Kein wah­res Wort dar­an«, be­harr­te Mr. Mar­vel.

      Der Ma­tro­se starr­te ihn an, die Zei­tung noch im­mer hal­tend. Mr. Mar­vel dreh­te sich um. »War­ten Sie ein we­nig«, rief der Ma­tro­se, wo­bei er sich lang­sam er­hob. »Wol­len Sie da­mit sa­gen – –?«

      »Ja« er­wi­der­te Mr. Mar­vel.

      »Wa­rum ha­ben Sie mich denn im­mer wei­ter re­den las­sen – all das un­sin­ni­ge Zeug, was? Wie kön­nen Sie sich un­ter­ste­hen, einen Men­schen so zum Nar­ren zu hal­ten?«

      Mr. Mar­vel blies die Luft durch die Zäh­ne. Der Ma­tro­se wur­de plötz­lich sehr rot und ball­te die Fäus­te.

      »Seit zehn Mi­nu­ten spre­che ich da«, sag­te er, »und du klei­ner dick­bau­chi­ger Hans­wurst hast nicht ein­mal so­viel Le­bens­art – –«

      »Hü­ten Sie sich, mit mir an­zu­fan­gen«, sag­te Mr. Mar­vel.

      »Mit dir an­fan­gen! Ich hät­te nicht übel Lust –«

      »Vor­wärts!«, sag­te eine Stim­me, und Mr. Mar­vel wur­de plötz­lich her­um­ge­dreht und in ei­ner sehr ko­mi­schen Wei­se zum Ge­hen ge­bracht. »Ja, schau­en Sie nur, dass Sie wei­ter­kom­men«, sag­te der Ma­tro­se. »Wen mei­nen Sie?«, ant­wor­te­te Mr. Mar­vel. Er be­weg­te sich aber schon mit selt­sa­men, has­ti­gen Schrit­ten ruck­wei­se vor­wärts. Nicht lan­ge dar­auf hör­te man ihn mit sich selbst spre­chen. Ein­wen­dun­gen ma­chen und hef­ti­ge Be­schul­di­gun­gen her­vor­brin­gen.

      »Dum­mer Kerl!«, sag­te der Ma­tro­se, der, die Bei­ne aus­ein­an­der­ge­spreizt und die Hän­de in die Ta­schen ver­senkt, der entei­len­den Ge­stalt nach­blick­te. »Ich will dich leh­ren, mich zum Nar­ren hal­ten, du dum­mer Kerl, du! Hier steht es in der Zei­tung!«

      Mr. Mar­vel sprach un­zu­sam­men­hän­gen­des Zeug vor sich hin und ver­schwand bei ei­ner Bie­gung. Der Ma­tro­se stand aber noch im­mer breit­spu­rig in der Mit­te der Stra­ße, bis ein Flei­scher­wa­gen ihn von dort ver­trieb. Dann wen­de­te er sich Port Sto­we zu. »Wirk­lich merk­wür­di­ge Nar­ren«, sag­te er zu sich selbst. »Nur um mich zu är­gern – das war sei­ne dum­me Ab­sicht … Es steht aber doch in der Zei­tung!«

      Und noch et­was an­de­res sehr Merk­wür­di­ges war, wie er bald dar­auf hör­te, ganz in sei­ner Nähe vor­ge­fal­len. Und das war eine Vi­si­on von »ei­ner Hand­voll Gold« (nicht mehr und nicht we­ni­ger), die ohne sicht­ba­ren Halt an der Mau­er der St. Mi­chaels Stra­ße ent­lang ge­wan­dert war. Ein an­de­rer See­mann hat­te am sel­ben Mor­gen die­ses Wun­der ge­se­hen. Er hat­te nach dem Gol­de ge­hascht, war aber zu Bo­den ge­schla­gen wor­den. Als er sei­ner Sin­ne wie­der mäch­tig war, war das Trug­gold ver­schwun­den. Un­ser Ma­tro­se er­klär­te, er sei in der Lau­ne, al­les zu glau­ben, aber das sei ein we­nig zu stark. Spä­ter al­ler­dings än­der­te er sei­ne Mei­nung.

      Die Ge­schich­te vom flie­gen­den Geld war rich­tig. Und über­all in der gan­zen Ge­gend hat­ten an je­nem Tage Geldrol­len oder ein­zel­ne Gold­stücke aus den Geld­la­den der Ge­schäf­te und Wirts­häu­ser – bei dem schö­nen Wet­ter stan­den die Tü­ren über­all of­fen – ja selbst aus der Fi­lia­le der mäch­ti­gen Bank von Eng­land sich in al­ler Stil­le und mit großer Ge­schick­lich­keit von selbst da­von­ge­macht, wa­ren ru­hig längs der Mau­ern an schat­ti­gen Or­ten da­von­ge­schwebt und hat­ten sich so den su­chen­den Bli­cken ent­zo­gen. Und im­mer und un­fehl­bar fand ihr ge­heim­nis­vol­ler Flug in den Ta­schen je­nes ner­vö­sen Herrn mit dem un­mo­der­nen Zy­lin­der, der vor dem Wirts­hau­se in ei­ner Vor­stadt von Port Sto­we saß, sein Ende, ob­wohl kein mensch­li­ches Auge es ge­wahr wur­de.

      Erst zehn Tage spä­ter, als die Er­eig­nis­se von Bur­dock schon all­be­kannt wa­ren, brach­te der Ma­tro­se alle die­se Vor­komm­nis­se in Ver­bin­dung und es däm­mer­te ihm, wie nahe er dem ge­heim­nis­vol­len Un­sicht­ba­ren ge­we­sen war.

      15. Kapitel – Der Flüchtling

      Spät am Nach­mit­tag saß Dr. Kemp in sei­nem Stu­dier­zim­mer in der Vil­la auf dem Hü­gel, von dem aus man Bur­dock über­blickt. Das Stu­dier­zim­mer war ein hüb­scher, klei­ner, aus­sichtstur­mar­ti­ger Raum mit drei Fens­tern nach Nor­den, Wes­ten und Sü­den. An den Wän­den stan­den Re­ga­le mit Bü­chern und wis­sen­schaft­li­chen Zeit­schrif­ten, in der Mit­te ein großer Schreib­tisch. Un­ter dem einen der Fens­ter be­fand sich ein Tisch­chen mit ei­nem Mi­kro­skop, Mess­in­stru­men­ten, Rein­kul­tu­ren und al­ler­lei Fla­schen. Ob­gleich die Son­ne noch am Him­mel stand, war die Lam­pe im Zim­mer schon an­ge­zün­det; die Fens­ter­lä­den wa­ren nicht ge­schlos­sen, da Dr. Kemp nicht Ge­fahr lief, von Neu­gie­ri­gen be­läs­tigt zu wer­den. Er war ein hoch­ge­wach­se­ner, schlan­ker, jun­ger Mann mit flachs­blon­dem Haar und fast weißem Schnurr­bart. Von dem Werk, an dem er ar­bei­te­te, hat­te er eine hohe Mei­nung; es muss­te ihn nach sei­ner Mei­nung zum Mit­glied der kö­nig­li­chen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten ma­chen.

      Bald schweif­te sein Auge von sei­ner Ar­beit ab und hef­te­te sich auf den glü­hen­den Son­nen­ball, der hin­ter dem ge­gen­über­lie­gen­den Hü­gel ver­schwand. Wohl eine Mi­nu­te blieb er mit der Fe­der im Mun­de re­gungs­los sit­zen und be­wun­der­te die rei­chen Gold­tö­ne auf dem Gip­fel des Ber­ges; dann fes­sel­te die klei­ne, schwar­ze Ge­stalt ei­nes Man­nes, der den Hü­gel her­ab di­rekt auf die Vil­la zu­rann­te, sei­ne Auf­merk­sam­keit. Es war ein un­ter­setz­ter, klei­ner Mann mit ei­nem Zy­lin­der; und er lief so schnell, dass man sei­ne Füße kaum mehr se­hen konn­te.

      »Wie­der ein sol­cher Esel«, sag­te Dr. Kemp. »Gera­de so ein Esel wie der Mann, der heu­te früh an der Ecke in mich hin­ein­rann­te und schrie: ›Der Un­sicht­ba­re kommt!‹ Die Leu­te sind wie


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