H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
auf, dann verschwand sie immer wieder bei jedem der drei einzeln stehenden Häuser, die auf dem Wege lagen, um ihm endlich knapp unter dem Hügel gänzlich aus den Augen zu kommen.
»Esel!«, sagte Dr. Kemp nochmals, dann drehte er sich auf dem Absatz um und ließ sich wieder an seinem Schreibtisch nieder.
Aber diejenigen, welche auf der offenen Landstraße gingen und den Ausdruck des Entsetzens auf dem in Schweiß gebadeten Gesicht des Flüchtlings sahen, teilten die verächtliche Ansicht des Doktors durchaus nicht. Vorüber keuchte der Mann, und wie er lief, tönte etwas an ihm, wie der Klang einer wohlgefüllten Börse, die hin und her geworfen wird. Er blickte weder rechts noch links; seine weit geöffneten Augen starrten gerade vor sich hin, nach dem Ort unten, wo die Laternen angezündet wurden und Menschen sich in den Straßen drängten. Sein hässlich geformter Mund öffnete sich, auf seinen Lippen lag weißer Schaum und schwer und pfeifend ging sein Atem. Die Leute, an denen er vorbeikam, blieben stehen und blickten sich mit leisem Unbehagen nach dem Grunde dieser Eile um.
Dann begann auf einmal ein Hund, der auf der Straße spielte, zu bellen und zu winseln und verkroch sich unter ein Tor; und während die Leute noch staunend dastanden, kam etwas – ein Windstoß – ein Tap, Tap, Tap – ein keuchender Atem – schnell an ihnen vorüber.
Alles schrie auf und sprang zur Seite. Durch Zurufe verbreitete es sich im Ort. Man schrie auf der Straße, bevor Marvel noch den halben Weg zurückgelegt hatte. Die Menschen stürzten mit der Neuigkeit in die Häuser und schlugen die Türen hinter sich zu. Er hörte es und machte eine letzte verzweifelte Anstrengung. Die bleiche Furcht kam herangezogen, flog ihm voraus und hatte in einem Augenblick die ganze Stadt ergriffen.
»Der Unsichtbare kommt! Der Unsichtbare!«
16. Kapitel – Im Wirtshaus »Zu den lustigen Cricketern«
Das Wirtshaus »Zu den lustigen Cricketern« liegt gerade am Fuße des Hügels, wo die Trambahnlinien beginnen. Der Wirt stützte seine dicken, roten Arme auf den Schanktisch und sprach mit einem bleichsüchtigen Kutscher über Pferde, während ein schwarzbärtiger, grau gekleideter Mann Brot und Käse aß, Bier trank und sich in stark amerikanischem Akzent mit einem dienstfreien Polizisten unterhielt.
»Was ist das für ein Geschrei?«, fragte der Kutscher und suchte über die schmutziggelben Vorhänge hinweg den Abhang zu überblicken. Jemand lief draußen vorbei.
»Vielleicht brennt es«, sagte der Wirt.
Schwere Schritte näherten sich eilends, die Tür wurde aufgerissen und Marvel stürzte in jämmerlicher Verfassung, ohne Hut, mit aufgerissenem Halskragen herein. Er drehte sich sogleich um und versuchte in verzweifelter Anstrengung, die Tür hinter sich zu schließen. Ein Strick hinderte ihn daran.
»Er kommt!«, stammelte er vor Entsetzen kreischend. »Er kommt! Der Unsichtbare! Er verfolgt mich! Um Gottes Barmherzigkeit willen! Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
»Schließt die Türen!«, sagte der Polizist. »Wer kommt? Was gibt es?« Er ging zur Tür, löste den Strick und die Tür schlug zu. Der Amerikaner schloss die zweite.
»Lasst mich herein!«, bat Marvel stammelnd und weinend, wobei er aber die Bücher noch immer fest an sich gedrückt hielt. »Lasst mich herein! Er ist hinter mir. Ich bin ihm durchgegangen. Er hat geschworen, er wird mich töten, und er wird es auch tun!«
»Sie sind in Sicherheit«, sagte der Schwarzbärtige. »Die Tür ist geschlossen. Was soll das alles heißen?«
»Lasst mich da hinein«, stammelte Marvel und schrie laut auf, als plötzlich ein Schlag die verriegelte Tür erdröhnen ließ, dem ein heftiges Klopfen und ein lauter Ruf draußen folgte.
»Hallo!«, rief der Polizeimann. »Wer ist da?«
Mr. Marvel machte verzweifelte Versuche, durch Wandverkleidungen, die wie Türen aussahen, zu entkommen. »Er wird mich ermorden! Er hat ein Messer oder sonst eine Waffel Um Gottes willen –!«
»Hierher!«, rief der Wirt. »Kommen Sie hierher!« Und er öffnete die Klappe des Schanktisches.
Während die Aufforderung zum Öffnen von draußen wiederholt wurde, stürzte Mr. Marvel hinter den Tisch. »Öffnet nicht!«, kreischte er. »Bitte, bitte, öffnet nicht! Wo soll ich mich nur verbergen?«
»Dies ist also der Unsichtbare?«, fragte der schwarzbärtige Mann, eine Hand auf dem Rücken haltend. »Höchste Zeit, dass er sich sehen lässt.«
Plötzlich wurde ein Fenster des Wirtshauses eingedrückt und auf der Straße vernahm man lautes Schreien und eiliges Hin- und Herrennen. Der Polizist hatte sich auf einen Stuhl gestellt und brannte vor Neugierde zu sehen, wer bei der Tür war. Jetzt stieg er mit gerunzelter Stirn wieder herunter. »Es ist so!«, sagte er. Der Wirt stand vor der Gastzimmertür, die jetzt hinter Mr. Marvel verriegelt wurde, starrte mit großen Augen auf das zerschlagene Fenster und gesellte sich dann zu den anderen Männern.
Plötzlich trat Stille ein. »Ich wollte, ich hätte meinen Knüttel«, sagte der Polizist, unentschlossen auf die Tür zugehend. »Sowie wir öffnen, kommt er herein. Da gibt es kein Aufhalten.«
»Beeilen Sie sich mit dem Öffnen nicht zu sehr«, meinte der bleichsüchtige Kutscher ängstlich.
»Ziehen Sie den Riegel zurück«, sagte der Schwarzbärtige, »und wenn er kommt …« Er brachte einen Revolver, den er in der Hand hielt, zum Vorschein.
»Das geht nicht«, meinte der Polizist, »das wäre Mord!«
»Ich weiß, in welchem Lande ich mich befinde«, sagte der Mann mit dem Bart, »ich will ihn in die Beine schießen. Schieben Sie den Riegel zurück.«
»Nicht, wenn das Zeug hinter mir losgeht«, erklärte der Wirt, durch die Vorhänge spähend.
»Auch recht«, sagte der Bärtige, ging, den Revolver schussbereit, vorwärts und öffnete selbst. Wirt, Kutscher und Polizist sahen ihm gespannt zu.
»Herein!«, sagte der Bärtige halblaut, trat einen Schritt zurück und hielt die Waffe schutzbereit hinter sich. Niemand erschien, nichts regte sich. Als fünf Minuten später ein zweiter Kutscher vorsichtig den Kopf hineinsteckte, warteten sie noch immer, während ein angstverzerrtes Gesicht sich im Rahmen der Gastzimmertür zeigte und alle möglichen Anfragen beantworten musste.
»Sind alle Türen im Hause geschlossen?«, fragte Marvel. »Er geht gewiss um das Haus herum und späht eine Gelegenheit aus. Er ist klug und listig wie der Teufel.«
»Großer Gott!«, rief der dicke Wirt. »Die Hintertür!