H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
flatternden Fahnen ist öde und verlassen, bis auf den wild wütenden Unsichtbaren, und bedeckt mit herumkollernden Kokosnüssen, umgestürzten Zelten und den in alle Winde zerstreuten Waren eines Verkäufers von Süßigkeiten. Überall werden Läden geschlossen und Riegel vorgeschoben. Die ganze Ortsbevölkerung ist verschwunden, nirgends sind Menschen zu sehen; nur hie und da kann man hinter den Fenstervorhängen ein ängstlich herausspähendes Auge erblicken.
Der Unsichtbare unterhielt sich noch kurze Zeit damit, alle Fenster im »Fuhrmann« einzuschlagen; dann warf er eine Straßenlaterne in Mrs. Grograms Wohnzimmer. Er muss es gewesen sein, der den Telegrafendraht nach Adderdean unmittelbar hinter Higgins Haus durchschnitt. Und dann verschwand er, dank seiner besonderen Gabe, ganz und gar aus dem Gesichtskreis der Menschen und wurde in Iping weiterhin weder gesehen noch gehört noch gefühlt. Er verschwand vollkommen.
Aber zwei gute Stunden dauerte es, bevor sich ein menschliches Wesen in Iping wieder auf die verödete Straße hinauswagte.
13. Kapitel – Mr. Marvel will abdanken
Bei Einbruch der Dunkelheit, als Iping eben begann, einen schüchternen Blick auf die Trümmer der festlichen Veranstaltungen zu werfen, schritt ein kleiner, dicker Mann in einem schäbigen Zylinder mühsam den Birkenwald an der Straße nach Bramblehurst entlang. Er trug drei Bücher, die durch ein eigentümliches elastisches Band zusammengehalten wurden, und ein in ein blaues Tischtuch eingewickeltes Bündel. Sein rotes Gesicht zeigte deutliche Spuren von Müdigkeit und Angst, und von Zeit zu Zeit schien er einen komischen Anlauf zu einer beschleunigteren Gangart zu nehmen. Eine Stimme, die nicht seine eigene war, folgte ihm, und wieder und wieder stöhnte er unter dem Druck einer unsichtbaren Hand.
»Wenn Sie mir noch einmal entwischen«, sagte die Stimme, »wenn Sie noch einmal den Versuch dazu machen – –«
»Herr Gott!«, stöhnte Mr. Marvel. »Meine Schulter ist schon ganz zerquetscht.«
»Dann töte ich Sie, auf Ehre!«, fuhr die Stimme fort.
»Ich wollte Ihnen gar nicht entwischen«, sagte Marvel schluchzend. »Ich schwöre, dass ich nicht die Absicht hatte. Ich kannte nur die Richtung nicht. Wie, zum Teufel, konnte ich die Richtung kennen? Ich bin ja so herumgestoßen worden – –«
»Sie werden noch viel mehr herumgestoßen werden, wenn Sie sich nicht zusammennehmen«, erwiderte die Stimme, und Mr. Marvel wurde plötzlich ganz still. Er stieß die Luft durch die Zähne und in seinen Augen malte sich die Verzweiflung.
»Es ist schon schlimm genug, dass diese einfältigen Pinsel dort unten mein Geheimnis kennen, auch ohne dass Sie mit meinen Büchern sich davonmachen. Für manche von ihnen ist es ein Glück, dass sie umkehrten und nach Hause rannten! Da bin ich nun … Niemand hat vorher gewusst, dass ich unsichtbar bin! Und was soll ich jetzt anfangen?«
»Was soll ich anfangen?«, fragte Marvel beiseite.
»Alles ist verraten. Es wird in die Zeitungen kommen. Jeder wird nach mir suchen. Jeder wird auf seiner Hut sein – – –«
Die Stimme brach in wilde Verwünschungen aus und verstummte. In Mr. Marvels Gesicht trat immer deutlicher dumpfe Verzweiflung hervor, und sein Schritt verlangsamte sich.
»Vorwärts«, rief die Stimme.
Das Gesicht Mr. Marvels wurde aschgrau zwischen den roten Flecken.
»Lassen Sie die Bücher nicht fallen, Sie Dummkopf«, sagte die Stimme in scharfem Tone.
»Tatsache ist«, fuhr die Stimme fort, »dass ich Sie verwenden muss … Sie sind ein armseliges Werkzeug, aber es geht nicht anders.«
»Ein elendes Werkzeug«, beteuerte Marvel.
»So ist es«, meinte die Stimme.
»Ich bin das schlechteste Werkzeug, das Sie wählen konnten«, setzte Marvel hinzu.
»Ich bin nicht kräftig«, fuhr er nach einem entmutigenden Stillschweigen fort.
»Ich bin nicht übermäßig kräftig«, wiederholte er.
»Nein?«
»Und mein Herz ist angegriffen. Dieser kleine Auftrag – ich habe ihn natürlich ausgeführt. Aber, bei Gott! Mir war zum Umfallen!«
»Nun?«
»Ich habe weder Kraft noch Mut genug für die Dinge, welche Sie verlangen – – –«
»Ich werde Sie anfeuern.«
»Ich wünschte, Sie täten es nicht. Es wäre mir nicht lieb, Ihre Pläne zunichte zu machen, wissen Sie. Aber es wäre möglich, dass ich aus purer Angst und Jämmerlichkeit – –«
»Ich würde es Ihnen nicht raten«, sagte die Stimme ruhig, aber nachdrücklich.
»Ich wollte, ich wäre tot«, sagte Marvel.
»Wo bleibt die Gerechtigkeit?«, fuhr er fort. »Sie müssen zugeben … Ich glaube, ich habe ein Recht – –«
»Vorwärts«, sagte die Stimme.
Mr. Marvel beschleunigte den Schritt und eine Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinander.
»Es ist verteufelt schwer«, sagte Mr. Marvel.
Das hatte keine Wirkung. Er versuchte einen anderen Angriff.
»Was habe ich davon«, begann er in dem Tone eines schwer gekränkten Mannes.
»Oh, seien Sie still!«, sagte die Stimme mit erstaunlicher Energie. »Ich werde schon für Sie sorgen. Sie werden tun, was ich Ihnen befehle. Sie können es ganz gut ausführen. Dass Sie ein Dummkopf sind, ist ja klar, aber Sie werden – –«
»Ich sage Ihnen, Herr, ich passe nicht dazu. Bei aller schuldigen Hochachtung – aber es ist so – –«
»Wenn Sie nicht ruhig sind, werden Sie Ihre Knochen spüren«, sagte der Unsichtbare. »Ich will ungestört Nachdenken.«
Kurze Zeit darauf sah man zwei gelbe Lichter durch die Bäume schimmern und ein viereckiger Kirchturm stieg im Dunkel vor ihnen auf. »Ich werde meine Hand auf Ihrer Schulter liegen lassen, bis wir das Dorf hinter uns haben«, sagte die Stimme. »Gehen Sie geradeaus durch und machen Sie keine Dummheiten, es könnte Ihnen schlecht bekommen.«
»Ich weiß es«, seufzte Mr. Marvel, »ich weiß es.«
Und die unglückliche Gestalt in dem schäbigen Zylinderhut ging schweigend mit ihrer Last durch das Dorf und verschwand im Dunkel.
14. Kapitel – In Port Stowe
Die