H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Gesicht bot ein Bild der höchsten Verwunderung.
»Das ist großartig!«, sagte er. »Noch interessanter als Hahnenkämpfe. Höchst erstaunlich! Das Kaninchen, das dort eine halbe Meile entfernt läuft, kann ich durch ihren Körper hindurch sehen! Nichts sieht man von Ihnen – außer –«
Er blickte angestrengt in den scheinbar leeren Raum. »Haben Sie vielleicht Brot und Käse gegessen?«, fragte er, den unsichtbaren Arm haltend.
»Sie haben ganz recht. Es hat sich dem Körper noch nicht assimiliert.«
»Oh«, sagte Mr. Marvel, »eine gruslige Geschichte!«
»Natürlich ist das alles nicht halb so merkwürdig, als Sie glauben.«
»Es ist gerade merkwürdig genug für meine bescheidenen Bedürfnisse«, meinte Mr. Thomas Marvel. »Wie machen Sie das? Wie zum Teufel stellt man das an?«
»Das ist eine zu lange Geschichte. Und außerdem –«
»Ich sage Ihnen, ich bin wie vor den Kopf geschlagen«, fuhr Mr. Marvel fort.
»Was ich Ihnen jetzt zu sagen wünsche, ist folgendes: Ich brauche Hilfe. So weit ist es mit mir gekommen. Toll vor Wut, nackt, ohnmächtig, wanderte ich auf der Straße, als ich auf Sie stieß. Ich hätte morden können … Da erblickte ich Sie –«
»Herr Gott!«, stieß Mr. Marvel hervor.
»Ich näherte mich Ihnen von rückwärts – zögerte – ging weiter.«
Mr. Marvels Gesichtsausdruck war geradezu sprechend deutlich.
»Dann blieb ich stehen. Hier, dachte ich, ist einer, den die Welt auch ausgestoßen hat. Das ist mein Mann. So wandte ich mich um und kam auf Sie zu. Auf Sie. Und –«
»Herr Gott!«, sagte Mr. Marvel. »Aber ich bin ganz verwirrt. Darf ich fragen, was Sie meinen und worin ich Ihnen behilflich sein kann? Unsichtbar!«
»Sie sollen mir helfen, mir Kleider, eine Zuflucht und noch anderes zu verschaffen. Ich habe dies alles lang genug entbehrt. Wenn Sie nicht wollen – gut! – Aber Sie müssen wollen!«
»Hören Sie«, antwortete Mr. Marvel. »Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Stoßen Sie mich jetzt nicht mehr herum. Lassen Sie mich gehen. Ich muss mich ein wenig stärken. Und Sie haben mir beinahe die Zehe zerschlagen. Es ist alles so widersinnig: leeres Land, leere Luft. Auf Meilen im Umkreise nichts sichtbar als der Busen der Natur. Und dann kommt eine Stimme. Eine Stimme aus dem Himmel heraus. Und Steine. Und eine Faust. Herr Gott!«
»Fassen Sie sich«, erwiderte die Stimme, »denn Sie müssen den Auftrag ausführen, für den ich Sie ausersehen habe.«
Mr. Marvel stieß die Luft durch die Zähne und machte große Augen.
»Sie habe ich ausersehen«, fuhr die Stimme fort. »Bis auf einige Narren dort unten sind Sie der einzige, der weiß, dass es etwas wie einen unsichtbaren Menschen gibt. Sie sollen mein Helfer sein. Helfen Sie mir – und ich will Großes für Sie tun. Ein unsichtbarer Mensch ist eine Macht.« Er hielt einen Augenblick ein, um heftig zu niesen.
»Aber wenn Sie mich verraten«, fuhr er fort, »wenn Sie nicht tun, was ich Ihnen auftrage …«
Er brach ab und klopfte Mr. Marvel fest auf die Schulter. Erschreckt schrie dieser auf. »Ich will Sie nicht verraten«, sagte er, wobei er sich der Berührung durch die unsichtbaren Finger zu entziehen suchte. »Glauben Sie nur das nicht. Ich wünsche nichts, als Ihnen helfen zu können – sagen Sie mir nur, was ich tun soll. (O Gott!) Was Sie von mir verlangen, ich bin gern bereit, es zu tun!«
1 von vox et praeterea nihil – Eine Stimme und sonst nichts <<<
10. Kapitel – Mr. Marvels Besuch in Iping
Nachdem sich der erste Schrecken gelegt hatte, begannen die Leute in Iping ihre Meinungen auszutauschen. Der Unglaube erhob plötzlich sein Haupt; zwar nicht sehr sieghaft, aber doch zweifelloser Unglaube. Es ist so leicht, die Existenz eines unsichtbaren Menschen zu leugnen; überdies konnte man diejenigen, welche ihn tatsächlich in Luft aufgehen sehen oder die Kraft seines Armes gefühlt hatten, an den Fingern abzählen. Und augenblicklich fehlte von diesen Zeugen Mr. Wadgers, der sich hinter den Riegeln und Schlössern seines Hauses verschanzt hatte, und Jaffers, welcher besinnungslos im Gastzimmer des »Fuhrmann« lag. Neue und ungewöhnliche Vorkommnisse, die über den Kreis menschlicher Erfahrung hinausgehen, machen oft weniger Eindruck auf das Volk als geringfügige, aber mehr greifbare Ereignisse. Iping war mit Flaggen geschmückt und alle Welt trug Feiertagsstaat. Seit mehr als einem Monat hatte man sich auf den Pfingstmontag gefreut. Am Nachmittag begannen selbst jene, die an den Unsichtbaren glaubten, in der willkürlichen Annahme, dass er den Ort gänzlich verlassen habe, ihren Vergnügungen, wenn auch etwas zerstreut, nachzugehen, und die Skeptiker machten schon Witze über ihn. Aber Skeptiker sowohl als Überzeugte waren den ganzen Tag über in einer bemerkenswert geselligen Stimmung.
Mitten auf Haysmans Wiese stand ein luftiges Zelt, wo Mrs. Bunting und andere Damen Tee bereiteten, während draußen die Kinder aus der Sonntagsschule ein Wettlaufen veranstalteten und unter der lärmenden Führung des Pfarrers und der Misses Cuss und Sackbutt fröhliche Spiele betrieben. Es lag allerdings eine gewisse Unbehaglichkeit in der Luft, aber die meisten Leute waren vernünftig genug, ihre Unruhe, für die sie einen bestimmten Grund nicht hätten angeben können, zu verbergen. Auf der Dorfwiese fand neben der Schaukel und der Kokosnussbude ein schiefgespanntes Seil außerordentlichen Zuspruch seitens der Jugend. Mittels des letzteren wurde man, während man sich an einer schwebenden Handhabe festhielt, pfeilschnell gegen einen am anderen Ende befestigten Sack geworfen. Man ging auch viel spazieren, und die Dampforgel eines kleinen Ringelspiels erfüllte die Luft mit durchdringendem Ölgeruch und ebenso durchdringender Musik. Mitglieder des Vereins, die morgens zur Kirche gegangen waren, trugen stolz ihre rot-grünen Abzeichen zur Schau, und die Lustigsten unter ihnen hatten sogar ihre Hüte mit schmalen, hellfarbigen Bändern geziert. Den alten Fletcher, der über Feiertage ganz besondere Ansichten hatte, konnte man durch das jasminumrankte Fenster oder durch die offene Tür hindurch (beides war gleich gut möglich) erblicken, wie er auf einem Brett stand, welches er über zwei Stühle gelegt hatte, und die Decke seines nach der Straße gelegenen Zimmers übertünchte.
Gegen 4 Uhr betrat ein Fremder, der von der Düne herkam, das Dorf. Es war ein kleiner, dicker Mann mit einem auffallend schäbigen Zylinder und er schien sehr außer Atem zu sein. Seine Wangen hingen abwechselnd bald schlaff