H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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ver­neh­men. Nie­mand wag­te sich die Trep­pe hin­auf. Wo­mit sich der Frem­de an je­nem Vor­mit­tag be­schäf­tig­te, hat man nie er­fah­ren. Hie und da ging er mit schwe­ren Schrit­ten auf und ab und zwei­mal dran­gen Wut­aus­brü­che, das Geräusch von zer­ris­se­nem Pa­pier und hef­tig an­ein­an­der klir­ren­den Fla­schen an die Ohren der Lau­scher.

      Die klei­ne Grup­pe er­schreck­ter, aber neu­gie­ri­ger Leu­te ver­grö­ßer­te sich. Mrs. Hux­ter kam her­über; ei­ni­ge lus­ti­ge Bur­schen, die aus An­lass des Fei­er­ta­ges in schwar­zen, fer­tig ge­kauf­ten Ja­cken und Pi­kee­kra­wat­ten Staat mach­ten, hal­fen den all­ge­mei­nen Wirr­warr er­hö­hen. Der jun­ge Archie Har­ker zeich­ne­te sich be­son­ders aus, in­dem er in den Hof hin­aus­ging und den Ver­such mach­te, un­ter die her­ab­ge­las­se­nen Vor­hän­ge zu spä­hen. Er konn­te zwar nichts se­hen, ließ aber das Ge­gen­teil ver­mu­ten, so­dass sich ihm an­de­re jun­ge Leu­te bald an­schlos­sen.

      Es war der schöns­te Pfingst­mon­tag, den man sich den­ken konn­te. Die Dorf­stra­ße ent­lang stan­den in ei­ner Rei­he fast ein Dut­zend Bu­den und eine Schieß­stät­te; und auf dem Ra­sen bei der Schmie­de stan­den drei gelb und braun ge­streif­te Wa­gen, vor de­nen meh­re­re ma­le­risch aus­se­hen­de Frem­de bei­der­lei Ge­schlechts ein Ko­kos­nuss­wer­fen ver­an­stal­te­ten. Die Män­ner tru­gen blaue Ma­tro­sen­ja­cken, die Frau­en wei­ße Schür­zen und ganz mo­der­ne Hüte mit schwe­ren Fe­dern. Woo­dyer, aus dem »Ro­ten Hirsch«, und Jag­gers, der Schuh­fli­cker, der auch mit ge­brauch­ten Fahr­rä­dern han­del­te, schmück­ten die Stra­ßen mit Ver­eins­fah­nen und kö­nig­li­chen Ban­nern, de­ren ur­sprüng­li­che Be­stim­mung es ge­we­sen war, das ers­te Vik­to­ria­ju­bi­lä­um zu fei­ern.

      In der künst­li­chen Dun­kel­heit des Gast­zim­mers, in das nur ein schwa­cher Licht­strahl drang, brü­te­te der Frem­de hung­rig, wie man an­neh­men muss, und ängst­lich in sei­ner un­be­quem hei­ßen Ver­mum­mung über sei­nen Auf­zeich­nun­gen, schlug sei­ne schmut­zi­gen Fla­schen an­ein­an­der und fluch­te von Zeit zu Zeit grim­mig auf die Bur­schen, die, zwar ihm nicht sicht­bar, je­doch sehr hör­bar vor den Fens­tern ihr We­sen trie­ben. In der Ecke beim Ka­min la­gen die Bruch­stücke von ei­nem hal­b­en Dut­zend zer­bro­che­ner Fla­schen. Die Luft war von ei­nem bei­ßen­den Chlor­ge­ruch durch­tränkt.

      Ge­gen Mit­tag öff­ne­te der Frem­de plötz­lich die Tür und starr­te die drei oder vier Leu­te im Schank­zim­mer an. »Mrs. Hall!«, rief er. Wi­der­wil­lig ging ei­ner von ih­nen hin­aus, um die Wir­tin zu ho­len.

      Mrs. Hall er­schi­en nach ei­ni­ger Zeit, ein we­nig atem­los, aber de­sto er­reg­ter. Hall war noch nicht zu Hau­se. Sie hat­te sich die Sa­che im vor­aus reif­lich über­legt und trug auf ei­ner Un­ter­tas­se eine un­be­zahl­te Rech­nung. »Sie wün­schen wohl Ihre Rech­nung, mein Herr?«

      »Wa­rum habe ich kein Früh­stück be­kom­men? Wa­rum ha­ben Sie mein Es­sen nicht ge­bracht und auf das Läu­ten nicht ge­hört? Glau­ben Sie, dass ich ohne Nah­rung le­ben kann?«

      »Wa­rum wird mei­ne Rech­nung nicht be­zahlt?«, ent­geg­ne­te Mrs. Hall, »das möch­te ich ger­ne wis­sen.«

      »Ich habe Ih­nen vor drei Ta­gen ge­sagt, dass ich einen Wech­sel er­war­te …«

      »Und ich habe Ih­nen vor drei Ta­gen ge­sagt, dass ich auf kei­nen Wech­sel war­ten will. Sie kön­nen sich nicht be­kla­gen, wenn Sie ein we­nig auf Ihr Früh­stück war­ten müs­sen, wo mei­ne Rech­nung seit fünf Ta­gen war­tet.«

      Der Frem­de fluch­te kurz, aber grim­mig.

      »Na, na!«, tön­te es aus der Schank­stu­be.

      »Und ich wäre Ih­nen sehr dank­bar, mein Herr, wenn Sie Ihre Flü­che für sich be­hal­ten woll­ten«, fuhr Mrs. Hall fort.

      Der Frem­de war in sei­nem Zorn ganz schreck­lich an­zu­se­hen. In der Schank­stu­be fühl­te man aber all­ge­mein, dass Mrs. Hall den Sieg da­von­ge­tra­gen hat­te. Die nächs­ten Wor­te ga­ben den Be­weis da­für.

      »Se­hen Sie, gute Frau«, be­gann er.

      »Ich bin nicht Ihre gute Frau«, fuhr Mrs. Hall auf.

      »Ich habe Ih­nen ge­sagt, dass mein Wech­sel noch nicht ge­kom­men ist.«

      »Wech­sel! Haha!«, lach­te Frau Hall spöt­tisch.

      »Doch kann ich Ih­nen sa­gen, dass ich in der Ta­sche …«

      »Vor drei Ta­gen sag­ten Sie mir, dass Sie kaum einen Schil­ling Klein­geld bei sich hät­ten.«

      »Ich habe noch et­was Geld ge­fun­den.«

      »Aha!«, kam es aus der Schank­stu­be.

      »Ich möch­te sehr ger­ne wis­sen, wo Sie es ge­fun­den ha­ben«, mein­te Mrs. Hall.

      Die­se Be­mer­kung schi­en den Frem­den sehr zu ver­drie­ßen. Er stampf­te mit dem Fuße. »Was mei­nen Sie da­mit?«, frag­te er.

      »Dass ich wis­sen möch­te, wo Sie es ge­fun­den ha­ben«, gab Mrs. Hall zur Ant­wort. »Und be­vor ich eine Rech­nung be­zahlt neh­me oder Ih­nen ein Früh­stück gebe oder et­was an­de­res die­ser Art tue, wer­den Sie so freund­lich sein, mir ver­schie­de­nes zu er­klä­ren, was ich nicht ver­ste­he, und was nie­mand ver­steht, und was je­der sehr ger­ne ver­ste­hen möch­te. Ich will wis­sen, was Sie mit mei­nem Stuh­le oben ge­tan ha­ben. Und ich will wis­sen, wie­so Ihr Zim­mer leer war, und wie Sie wie­der hin­ein­ka­men. Wer in mei­nem Hau­se wohnt, kommt zur Tür her­ein. Das ist die Haus­re­gel bei mir. Und das ha­ben Sie nicht ge­tan, und ich will wis­sen, auf wel­che Wei­se Sie her­ein­ka­men. Und ich will wis­sen –«

      Plötz­lich er­hob der Frem­de sei­ne be­hand­schuh­te Rech­te, ball­te sie zur Faust zu­sam­men, stampf­te mit dem Fuße und sag­te so hef­tig: »Still!«, dass sie ein­ge­schüch­tert still­schwieg.

      »Sie wis­sen nicht«, sag­te er, »wer ich bin und was ich bin. Ich wer­de es Ih­nen zei­gen! Beim Him­mel, ich wer­de es Ih­nen zei­gen!« Dann strich er mit der Hand­flä­che über das Ge­sicht und zog die Hand wie­der zu­rück. In der Mit­te sei­nes Ge­sich­tes zeig­te sich eine schwar­ze Höh­lung. »Hier«, sag­te er. Er tat einen Schritt nach vor­wärts und hän­dig­te Mrs. Hall et­was ein, was sie, auf sein ver­wan­del­tes Ge­sicht star­rend, me­cha­nisch fest­hielt. Dann, als sie sah, was es war, kreisch­te sie laut auf, warf es weg und wich zu­rück. Eine Nase aus Pap­pe – es war des Frem­den Nase, rot und glän­zend – roll­te mit hoh­lem Ton auf die Die­le. Dann nahm er die Bril­le ab und die Leu­te in der Schank­stu­be hiel­ten den Atem an.

      Er nahm den Hut ab und riss mit ei­ner hef­ti­gen Be­we­gung an sei­nem Bart und Ver­band. Ei­nen Au­gen­blick lang wi­der­stan­den sie ihm. Eine schreck­li­che Ah­nung durch­blitz­te die Um­ste­hen­den. »O, mein Gott.« sag­te je­mand. Dann flo­gen Bart und Ver­band da­von.

      Das war ent­setz­li­cher als al­les. Mrs. Hall, die mit of­fe­nem Mund, wie ver­stei­nert, da­stand, schrie laut auf und floh durch die Tür. Eine Be­we­gung ging durch die Men­ge. Man war auf Wun­den, Ent­stel­lun­gen, den An­blick von et­was Schreck­li­chem ge­fasst: aber – nichts. Der Ver­band und das falsche Haar flo­gen durch den Gang in die Schank­stu­be, und ei­ner der jun­gen Bur­schen sprang bei­sei­te, um ih­nen aus­zu­wei­chen. Ei­ner stol­per­te über den an­de­ren auf den Stu­fen. Denn der Mensch, der dort stand und un­zu­sam­men­hän­gen­de Er­klä­run­gen


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