H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
fragte Teddy Henfrey.
»Der Mensch, von dem du sprichst, den mein Hund gebissen hat – ich sage dir – er ist schwarz! Seine Beine wenigstens. Ich sah durch den Riss in seinen Hosen und in seinen Handschuhen. Du hättest doch auch etwas Rotes zu sehen erwartet, nicht wahr? Fehlgeraten! Alles war schwarz. Schwarz wie mein Hut da.«
»Meiner Treu«, meinte Henfrey, »das ist eine seltsame Geschichte. Aber seine Nase ist doch scharlachrot!«
»Das ist richtig«, erwiderte Fearenside, »ich weiß es und will dir sagen, wie ich es mir erkläre. Der Mensch ist ein Schecke, Teddy, schwarz und weiß gefleckt. Und er schämt sich, es zu zeigen. Er ist eine Art Mischblut; anstatt sich zu vermischen, sind die Farben in Flecken herausgekommen. Ich habe schon von derartigen Fällen gehört. Und bei Pferden ist es das Gewöhnliche, wie jedermann weiß.«
4. Kapitel – Mr. Cuss interviewt den Fremden
Ich habe die Umstände, welche die Ankunft des Fremden in Iping begleiteten, mit besonderer Ausführlichkeit erzählt, damit der Leser den merkwürdigen Eindruck, den er hervorrief, verstehen soll. Aber bis auf zwei eigentümliche Zwischenfälle kann ich über die Umstände seines Aufenthaltes im »Fuhrmann« bis zu dem denkwürdigen Tag des Vereinsfestes rasch hinweggehen. Es gab der Hausordnung wegen zahlreiche Scharmützel mit Mrs. Hall, aber bis spät in den April hinein, da sich die ersten Anzeichen von Geldmangel zu zeigen begannen, war sie durch irgendeine kleine Extrabezahlung leicht zu beschwichtigen. Hall liebte ihn nicht, und so oft er konnte, sprach er davon, dass es ratsam wäre, sich seiner zu entledigen. Aber er zeigte diese Abneigung hauptsächlich dadurch, dass er sie sorgfältig verbarg und seinen Gast soviel als möglich mied.
»Warte bis zum Sommer, bis die Maler kommen«, meinte Mrs. Hall verständig. »Dann werden wir weitersehen. Er mag ein wenig anspruchsvoll sein, aber pünktlich bezahlte Rechnungen sind pünktlich bezahlte Rechnungen, dagegen lässt sich nichts sagen.«
Der Fremde ging nie in die Kirche und machte keinen Unterschied zwischen Sonn- und Wochentagen. Auch nicht in seiner Kleidung. Mrs. Hall fand, er arbeite sehr unregelmäßig. Zuweilen kam er früh herunter und arbeitete eifrig. Dann kam es wieder vor, dass er spät aufstand, stundenlang aufgeregt im Zimmer auf und ab ging, rauchte oder im Lehnstuhl am Feuer schlief. Er hatte keinerlei Verbindung mit der Welt außerhalb des Dorfes. Seine Gemütsstimmung war sehr veränderlich; meist aber benahm er sich wie ein Mensch, der fast Unerträgliches zu erdulden hat, und hie und da hatte er plötzliche Anfälle von Wildheit, in welchen er etwas zerriss, zerbrach oder zertrat. Von Tag zu Tag verstärkte sich seine Gewohnheit, leise mit sich selbst zu sprechen; aber obgleich Mrs. Hall sich Mühe gab, etwas zu erhorchen, konnte sie in seine abgerissenen Worte keinen Sinn bringen.
Tagsüber ging er selten aus, aber im Halbdunkel pflegte er bei jedem Wetter, bis zur Unsichtbarkeit vermummt, spazierenzugehen, und selbst dann wählte er die einsamsten und dunkelsten Wege. Die riesige Schutzbrille, das geisterhaft verhüllte Gesicht unter dem breitrandigen Hut, trat er oft spät heimkehrenden Arbeitern unheimlich plötzlich entgegen. Und Teddy Henfrey, der eines Abends um halb zehn Uhr aus dem Gasthause »Zum roten Frack« heraustaumelte, wurde durch des Fremden ungeheuerlichen Kopf, den ein Lichtstrahl aus der geöffneten Wirtsstubentür plötzlich beleuchtete, tödlich erschreckt. Kinder, die ihn bei Anbruch der Nacht sahen, träumten von Gespenstern, und es war eine offene Frage, ob er die Kinder mehr hasste oder sie ihn. Auf jeden Fall aber bestand eine lebhafte Abneigung auf beiden Seiten.
Es war unvermeidlich, dass ein Mensch von so ungewöhnlichem Äußern und solchem Benehmen in einem Dorfe wie Iping den häufigen Gesprächsstoff bildete. Über seine Beschäftigung waren die Meinungen sehr geteilt. Mrs. Hall war in diesem Punkte sehr empfindlich. Wurde sie gefragt, so erklärte sie wohlgefällig, dass er ein »Experimentalforscher« sei, und sprach jede Silbe so sorgfältig aus, als ob sie fürchtete, darüber zu stolpern. Fragte man sie, was ein Experimentalforscher eigentlich sei, pflegte sie mit einer gewissen Überlegenheit zu erwidern, dass gebildete Leute solche Sachen gewöhnlich wüssten, und fügte als Erklärung bei, dass er »Entdeckungen mache«. Ihr Gast habe einen Unfall erlitten, sagte sie, durch welchen sein Gesicht und seine Hände entstellt worden wären, und da er zur Empfindlichkeit neige, weiche er natürlich allen Menschen aus. Eine weit verbreitete Ansicht, von der aber Mrs. Hall nichts zu hören bekam, ging dahin, der Fremde sei ein Verbrecher, der sich vor den Augen der Polizei verberge, um sich der Gerechtigkeit zu entziehen. Dieser Gedanke war dem Gehirne Mr. Teddy Henfreys entsprungen und hatte leider die Tatsache gegen sich, dass seit Mitte oder Ende Februar kein Verbrechen von irgendwelcher Bedeutung begangen worden war. In der Fantasie Mr. Goulds, des Probelehrers an der Volksschule, nahm der Verdacht eine andere Form an: er hielt den Fremden für einen verkleideten Anarchisten, der Sprengstoffe vorbereite, und er beschloss, dem ganz in der Weise eines Detektivs nachzuspüren, so gut es seine Zeit erlaubte. Seine diesbezügliche Tätigkeit bestand hauptsächlich darin, den Fremden, wo immer er ihn traf, scharf anzusehen oder Leute, welche den Fremden nie gesehen hatten, zu Mitteilungen über denselben zu veranlassen. Aber er entdeckte nichts.
Die Anhänger wieder einer anderen Schule, deren Haupt Fearenside war, huldigten entweder der Scheckentheorie oder einer Abart derselben. So zum Beispiel meinte Silas Durgan, der Fremde könnte sein Glück machen, wenn er sich entschlösse, »sich auf Jahrmärkten« zu zeigen, und als Bibelkenner verglich er den Fremden mit dem Mann mit dem einen Pfund. Wieder andere stellten ihn als einen harmlosen Irrsinnigen hin, eine Annahme, die den unleugbaren Vorzug hatte, alle Sonderbarkeiten des Fremden erklären zu können. Zwischen diesen Hauptgruppen standen Leute, die sich noch keine feste Meinung gebildet hatten und solche, die jedem recht gaben. Das Volk in Sussex ist nicht abergläubisch, und erst nach den Ereignissen der ersten Apriltage tauchte im Dorfe der Gedanke an etwas Übernatürliches auf; selbst dann aber glaubten nur Frauen daran.
Aber wofür sie ihn auch halten mochten, in der Abneigung gegen den Fremden waren die Bewohner von Iping so ziemlich einig. Seine Reizbarkeit, die für einen Städter, der sich geistig beschäftigt, nichts Merkwürdiges gehabt hätte, war für die ruhigen Landleute eine erstaunliche Sache. Die wilden Gebärden, bei denen sie ihn hie und da überraschten, die Hast, mit der er nach Einbruch der Dunkelheit auf abgelegenen Wegen mehr lief als ging, die unnatürliche Zurückweisung aller ihrer neugierigen Annäherungsversuche,