H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
durch das Dorf stampfte, »man muss doch eine Uhr zuweilen reparieren, nicht?«
Und dann: »Darf man dich nicht einmal anschauen, du hässlicher Kerl?«
Und wieder nach einer Weile: »Es scheint dir nicht angenehm zu sein. Wenn die Polizei dich suchte, könntest du nicht mehr vermummt und verbunden sein!«
An einer Ecke kam ihm Hall entgegen, der vor kurzem die Wirtin des Fremden im Gasthof »Zum Fuhrmann« geheiratet hatte, und der eben von Siderbridge kam, wohin er zuweilen, wenn Reisende anlangten, den Ipinger Postwagen kutschierte. Nach seinem Fahren zu schließen, mochte er in Siderbridge etwas über den Durst getrunken haben. »Wie geht’s, Teddy?«, fragte er im Vorbeifahren.
»Einen wunderlichen Kauz habt ihr daheim bei euch!«, sagte Teddy.
Hall war gleich bereit anzuhalten. »Was heißt das?«, fragte er.
»Merkwürdiger Kunde da im ›Fuhrmann‹«, erklärte Teddy. »Meiner Treu!«
Und er begann eine lebendige Schilderung des sonderlichen Gastes zu geben. »Sieht fast nach einer Verkleidung aus, glaubst du nicht auch? Ich möchte doch das Gesicht eines Menschen sehen, wenn ich ihn in meinem Hause hätte«, erklärte Teddy Henfrey. »Aber die Weiber sind so vertrauensselig, wenn es sich um Fremde handelt. Er hat deine Zimmer gemietet und nicht einmal seinen Namen genannt, Hall.«
»Nicht möglich«, sagte Hall, ein Mensch, der nur sehr langsam begriff.
»Doch«, entgegnete Teddy, »mit wöchentlicher Kündigung. Wer er auch sein mag, vor einer Woche könnt ihr ihn nicht los werden. Und morgen kommt ein Haufen Gepäck für ihn, sagt er. Wir wollen hoffen, dass seine Koffer nicht mit Steinen angefüllt sind, Hall.«
Und er erzählte, wie seine Tante in Hastings von einem Manne mit leeren Reisetaschen betrogen worden war. Im großen und ganzen erweckte er in dem Freunde einen leisen Verdacht. »Los, Schimmel«, sagte Hall, »ich muss mir die Geschichte doch mal ansehen.«
Mit bedeutend erleichtertem Gemüt stampfte Teddy weiter.
Anstatt sich die Geschichte »mal anzusehen«, wurde aber Hall bei seiner Rückkehr von seiner Frau wegen seines langen Aufenthaltes in Siderbridge tüchtig gescholten und seine ziemlich schüchternen und zaghaften Fragen schnippisch und ausweichend beantwortet. Doch der Samen des Verdachts, welchen Teddy gesät hatte, schlug trotz dieser Entmutigung in Mr. Halls Seele Wurzel. »Ihr Weiber wisst auch nicht alles«, sagte er, entschlossen, bei der ersten passenden Gelegenheit Näheres über seinen Gast in Erfahrung zu bringen. Und nachdem der Fremde zu Bett gegangen war, was gegen neuneinhalb Uhr geschah, ging Mr. Hall sehr unternehmend ins Gastzimmer, sah sich die Möbel seiner Frau sehr genau an, um zu zeigen, dass nicht der Fremde dort Herr sei, und maß ein Blatt Papier voll mathematischer Berechnungen, das der Fremde liegen gelassen hatte, mit verächtlichen Blicken. Als er zur Ruhe ging, ermahnte er Mrs. Hall, sich das Gepäck des Fremden, wenn es am Morgen käme, sehr genau anzusehen.
»Kümmre dich um deine Sachen, Mann«, erwiderte diese, »und mische dich nicht in meine Angelegenheiten.«
Sie war umso eher geneigt, Hall kurz abzufertigen, als der Fremde ohne Zweifel etwas Ungewöhnliches an sich hatte und sie selbst über ihn durchaus nicht beruhigt war. Mitten in der Nacht schreckte sie ein Traum von ungeheuren, weißen Köpfen, die wie Rüben aussahen, auf unendlich langen Hälsen saßen und sie mit riesigen schwarzen Augen verfolgten, aus dem Schlafe. Aber als vernünftige Frau überwand sie ihren Schrecken, drehte sich auf die andere Seite und schlief gleich wieder ein.
3. Kapitel – Tausendundeine Flasche
So geschah es, dass am 29. Februar, bei beginnendem Tauwetter, dieser merkwürdige Mensch wie aus den Wolken nach Iping herabfiel. Am nächsten Tage traf sein Gepäck ein – und auch dieses war eigentümlich genug. Es waren allerdings zwei Koffer da, wie jeder vernünftige Mensch sie haben konnte, aber außerdem noch eine Bücherkiste – große, dicke Bücher, manche in unverständlicher Schrift – und über ein Dutzend Körbe, Kisten und Kasten, welche in Stroh verpackte Gegenstände enthielten, welch letztere Hall, der in gerechtfertigter Neugierde das Stroh untersuchte, für Glasflaschen hielt. Der Fremde, mit Hut, Stock, Handschuhen und Halstuch versehen, erschien voller Ungeduld, als Fearensides, des Fuhrmanns, Karren vor dem Hause hielt, während Hall mit Fearenside ein kurzes Gespräch anknüpfte, bevor er beim Abladen der Kisten behilflich war. Ohne des Fuhrmanns Hund, der freundlich Halls Beine beschnüffelte, zu beachten, trat der Fremde vor die Tür.
»Beeilt euch mit den Kisten!«, rief er. »Ich habe lange genug warten müssen!« Und er kam die Stufen herab auf den Karren zu, als ob er selbst mit Hand anlegen wollte.
Kaum hatte ihn Fearensides Hund jedoch erblickt, als er unruhig wurde und zu knurren begann; als der Fremde unten angelangt war, tat der Hund einen Satz und sprang dann gerade auf seine Hand los. »Wupp!«, schrie Hall zurückweichend, denn er war Hunden gegenüber gerade kein Held, und Fearenside brüllte: »Nieder!«, und langte rasch nach seiner Peitsche.
Sie sahen, wie die Zähne des Hundes die Hand fahren ließen, hörten einen Schlag, sahen den Hund zur Seite springen, sich in das Bein des Fremden verbeißen und hörten deutlich den Riss, der durch dessen Beinkleider ging. Dann fiel Fearensides Peitsche auf den Hund nieder, der sich unter wütendem Bellen unter die Räder des Karrens verkroch. All dies geschah in dem kurzen Zeitraum einer halben Minute. Niemand sprach, alle schrien. Der Fremde warf einen schnellen Blick auf seine zerrissenen Handschuhe und auf sein Bein, schien sich zu dem letzteren niederbeugen zu wollen, wendete sich dann aber um und eilte über die Stufen in den Gasthof zurück. Man hörte ihn den Gang durcheilen und die Holztreppen zu seinem Schlafzimmer emporsteigen.
»Du Vieh, du!«, schrie Fearenside, mit der Peitsche in der Hand vom Wagen steigend, während der Hund durch die Räder hindurch jede seiner Bewegungen beobachtete.
»Komm her! Wirst du wohl!«, fügte er hinzu.
Hall war atemlos dagestanden. »Er ist gebissen worden«, sagte er endlich, »ich will nach ihm sehen.« Und er folgte dem Fremden. Im Hausflur traf er seine Frau. »Des Fuhrmanns Hund hat ihn gebissen«, teilte er ihr beim Vorübergehen mit.
Er ging, ohne zu zaudern, die Stiegen hinauf, öffnete die angelehnte Tür zu des Fremden Schlafzimmer und trat ohne Umstände, nur von seinem Mitgefühl geleitet, ein.
Die Vorhänge waren zugezogen und das Zimmer dunkel. Sekundenlang hatte er eine merkwürdige