H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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ei­ni­ge Tak­te des Lie­des vor sich hin. Selbst klei­ne Kin­der, die zu­fäl­lig des Abends noch auf der Stra­ße wa­ren, rie­fen ihm »Vo­gel­scheu­che!«, nach und lie­fen dann, stolz über ih­ren Mut, da­von.

      Cuss, der Wund­arzt, wur­de von Neu­gier­de ver­zehrt; die Ver­bän­de er­reg­ten sein wis­sen­schaft­li­ches In­ter­es­se, das Gerücht von der un­ge­heu­ren Men­ge von Fla­schen sei­ne Ei­fer­sucht. Den gan­zen April und Mai such­te er krampf­haft nach ei­ner Ge­le­gen­heit, mit dem Frem­den in Berüh­rung zu kom­men. End­lich, ge­gen Pfings­ten, hielt er es nicht län­ger aus und nahm die Sam­mel­lis­te für einen Pfle­ge­rin­nen­fonds zum Vor­wand, um den ge­heim­nis­vol­len Gast im »Fuhr­mann« auf­zu­su­chen. Er war er­staunt zu hö­ren, dass Mr. Hall den Na­men sei­nes Mie­ters nicht kann­te.

      »Er nann­te sei­nen Na­men«, er­klär­te Mrs. Hall – eine gänz­lich un­ge­recht­fer­tig­te Be­haup­tung – »aber ich ver­stand ihn nicht recht.« Sie dach­te, es sähe so dumm aus, den Na­men des Man­nes nicht zu wis­sen.

      Cuss poch­te an die Tür und trat ein. Eine ziem­lich deut­li­che Ver­wün­schung drang aus dem Zim­mer her­aus.

      »Ent­schul­di­gen Sie mein Ein­drin­gen«, be­gann Cuss, dann schloss er die Tür und Mrs. Hall muss­te wohl oder übel auf den Rest des Ge­sprä­ches ver­zich­ten.

      Zehn Mi­nu­ten lang hör­te sie mur­meln­de Stim­men, dann folg­te ein Aus­ruf der Über­ra­schung, das Schar­ren von Fü­ßen, der dump­fe Fall ei­nes bei­sei­te ge­schleu­der­ten Stuh­les, ein hei­se­res La­chen – schnel­le Schrit­te nä­her­ten sich der Tür und Cuss er­schi­en mit krei­de­blei­chem Ge­sicht und starr nach rück­wärts ge­wen­de­tem Kopf. Er ließ die Tür hin­ter sich of­fen, ging, ohne sich um­zu­se­hen, durch den Gang und die Trep­pe hin­ab; dann hör­te Mrs. Hall, wie sich sei­ne Schrit­te ei­ligst auf der Stra­ße ent­fern­ten. Den Hut trug er in der Hand. Sie stand hin­ter dem Schank­tisch und blick­te auf die of­fe­ne Wohn­zim­mer­tür. Sie hör­te den Frem­den lei­se la­chen und durch das Zim­mer ge­hen, konn­te aber von ih­rem Plat­ze aus sein Ge­sicht nicht se­hen. Dann wur­de die Tür zu­ge­schla­gen und al­les war wie­der ru­hig.

      Cuss ging ge­ra­des­wegs durch das Dorf zu Bun­ting, dem Pfar­rer.

      »Bin ich ver­rückt?«, be­gann Cuss ohne jede Ein­lei­tung, als er in das ein­fa­che, klei­ne Stu­dier­zim­mer trat. »Sehe ich aus wie ein Irr­sin­ni­ger?«

      »Was ist Ih­nen denn ge­sche­hen?«, frag­te der Pfar­rer, auf die lo­sen Blät­ter sei­ner dies­wö­chi­gen Pre­digt ein Zei­chen le­gend.

      »Der Mensch im Wirts­hau­se –«

      »Ja?«

      »Ge­ben Sie mir et­was zu trin­ken«, bat Cuss und setz­te sich nie­der.

      Als er sei­ne Ner­ven durch ein Glas bil­li­gen Sher­rys – das ein­zi­ge Ge­tränk, wel­ches der gute Pfar­rer be­saß – ge­stärkt hat­te, be­gann er ihm von der eben statt­ge­fun­de­nen Un­ter­re­dung zu er­zäh­len.

      »Ich ging hin­ein«, keuch­te er, »und bat um einen Bei­trag für den Pfle­ge­rin­nen­fonds. Er hat­te die Hän­de in den Ta­schen, als ich ein­trat, und ließ sich breit auf sei­nen Ses­sel nie­der. Dann nies­te er. Ich er­zähl­te ihm, ich hät­te ge­hört, er in­ter­es­sie­re sich für wis­sen­schaft­li­che Fra­gen. Er be­jah­te es, nies­te wie­der und kam aus dem Nie­sen nicht her­aus. Hat­te sich au­gen­schein­lich vor kur­z­em einen höl­li­schen Schnup­fen ge­holt. Kein Wun­der bei der dich­ten Ver­mum­mung. Ich ent­wi­ckel­te ihm die Idee be­züg­lich der Pfle­ge­rin­nen und hielt die gan­ze Zeit die Au­gen of­fen. Fla­schen – Che­mi­ka­li­en über­all, Wage, Pro­bier­glä­ser auf Re­ga­len und ein pe­ne­tran­ter Ge­ruch im Zim­mer. Wür­de er einen Bei­trag ge­ben? Sag­te, er wür­de sich’s über­le­gen. Frag­te ihn ge­ra­de­zu, ob er ex­pe­ri­men­tie­re. Er be­jah­te. Eine lang­wie­ri­ge Un­ter­su­chung? Er wur­de ganz grob: ›Ei­ne ver­dammt lang­wie­ri­ge Un­ter­su­chung‹, sag­te er, und nun kam die gan­ze Sa­che her­aus. Der Mann war ge­ra­de am Sie­de­punkt und mei­ne Fra­ge ließ ihn über­schäu­men. Man hat­te ihm ein Re­zept ge­ge­ben – ein sehr wert­vol­les Re­zept – wo­für, woll­te er nicht sa­gen. Ein ärzt­li­ches? ›Zum Teu­fel! Was wol­len Sie denn aus mir her­aus­brin­gen?‹ Ich bat um Ent­schul­di­gung. Wie­der­hol­tes Nie­sen und Hus­ten. Er fuhr fort: Er hat­te eben das Re­zept le­sen wol­len. Es be­stand aus fünf In­gre­di­en­zi­en. Er hat­te es hin­ge­legt und den Kopf weg­ge­wen­det. Ein Wind­stoß vom Fens­ter ließ das Pa­pier auf­flat­tern. Er hör­te es ra­scheln. Er ar­bei­te­te da­mals in ei­nem Zim­mer mit of­fe­nem Feu­er, sag­te er. Er sah ein Auf­fla­ckern, das Re­zept brann­te und hob sich im Ka­min in die Höhe. Er stürz­te sich dar­auf, ge­ra­de als es in den Ka­min flog. So! In die­sem Au­gen­blick, wie um sei­ne Er­zäh­lung le­ben­di­ger zu ge­stal­ten, hob er den Arm in die Höhe.«

      »Nun?«

      »Ohne Hand. Nichts als ein lee­rer Är­mel. Gott! dach­te ich, wel­che Verun­stal­tung! Wahr­schein­lich hat er einen künst­li­chen Arm, den er ab­ge­nom­men hat. Dann dach­te ich: Da steckt doch et­was da­hin­ter. Was zum Teu­fel hält die­sen Är­mel of­fen und in die Höhe, wenn nichts dar­in ist? Es war nichts drin, sage ich Ih­nen, bis ganz tief hin­ein, bis zum Schul­ter­ge­lenk nichts. Ich konn­te bis zum Ell­bo­gen hin­ein­se­hen und ein Licht­schim­mer drang durch einen Riss im Stoff. ›Gro­ßer Gott!‹ rief ich aus. Da hielt er ein und starr­te mit sei­nen großen Schutz­glä­sern erst mich, dann sei­nen Är­mel an.«

      »Nun?«

      »Wei­ter nichts. Er sag­te kein Wort, blick­te nur wild um sich und steck­te den Är­mel schnell wie­der in die Ta­sche. ›Ich habe ge­sag­t‹, fuhr er fort, ›dass das Re­zept brann­te, nicht wahr?‹ Fra­gen­des Hus­ten. ›Wie zum Teu­fel kön­nen Sie einen lee­ren Är­mel so be­we­gen?‹ sag­te ich. ›Lee­ren Är­mel?‹ ›Ja‹, er­wi­der­te ich, ›ei­nen lee­ren Är­mel.‹

      ›Es ist also ein lee­rer Är­mel. Sie sa­hen den lee­ren Är­mel?‹ Er er­hob sich schnell und auch ich stand auf. Mit drei sehr lang­sa­men Schrit­ten kam er auf mich zu, bis er un­mit­tel­bar ne­ben mir stand. Nies­te ge­wal­tig. Ich wank­te nicht, ob­gleich ich mich hän­gen las­sen will, wenn die­ser ver­bun­de­ne Kopf und die Glotzau­gen nicht je­den gru­seln ma­chen, auf den sie so lang­sam zu­kom­men.

      ›Ein lee­rer Är­mel, sag­ten Sie‹, wie­der­hol­te er. ›Ge­wiss‹, ent­geg­ne­te ich. Es ist wirk­lich schwer, sei­nen Mann zu stel­len, wenn man still­schwei­gend an­ge­st­arrt wird von ei­nem Men­schen mit ver­hüll­tem Ge­sicht und fun­keln­den Au­genglä­sern. Er zog den Är­mel sehr lang­sam aus der Ta­sche her­aus und er­hob ihn dann ge­gen mich, als ob er ihn mir noch­mals zei­gen woll­te. Das tat er sehr, sehr lang­sam. Ich blick­te ihn an – eine Ewig­keit schi­en es mir. ›Nun?‹ sag­te ich mit un­si­che­rer Stim­me; ›der Är­mel ist leer?‹

      Ich muss­te et­was sa­gen, denn ich be­gann mich zu fürch­ten. Ich konn­te tief hin­ein­se­hen. Er streck­te ihn ge­ra­de ge­gen mich aus, lang­sam, ganz lang­sam – un­ge­fähr so – bis der Är­me­lauf­schlag nur noch sechs Zoll von mei­nem Ge­sicht ent­fernt war. Un­heim­li­ches Ge­fühl, einen lee­ren Är­mel so auf sich zu­kom­men zu se­hen! Und dann – –«

      »Nun, dann?«

      »Et­was – es fühl­te sich


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