H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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mit sei­nem Ge­hil­fen, der Mann von der Schau­kel, klei­ne Kna­ben und Mäd­chen, fei­er­täg­lich ge­klei­de­te Bur­schen, hüb­sche Bau­ern­dir­nen, her­aus­ge­putz­te ält­li­che Jung­fern, die Zi­geu­ne­rin­nen – und lief dem Wirts­hau­se zu. In wun­der­bar kur­z­er Zeit wog­te ein Hau­fen von etwa vier­zig Leu­ten, der sich un­un­ter­bro­chen ver­grö­ßer­te, vor dem »Fuhr­mann« hin und her und schrie und frag­te und stell­te alle mög­li­chen Ver­mu­tun­gen an. Alle woll­ten auf ein­mal spre­chen, so­dass ein wah­res Ba­bel ent­stand. Eine klei­ne Grup­pe nahm sich Mrs. Halls an, wel­che in halb ohn­mäch­ti­gem Zu­stand her­aus­ge­bracht wor­den war. Mit­ten in der Ver­wir­rung wur­den die un­glaub­li­chen An­ga­ben ei­nes wort­rei­chen Au­gen­zeu­gen laut: »O Gott! Was hat er denn ei­gent­lich ge­tan? Hat er das Mäd­chen an­ge­fal­len?« »Mit dem Mes­ser ist er auf sie los­ge­gan­gen, glau­be ich.« »Er ist kopf­los, sag’ ich euch, das ist kei­ne Re­dens­art, ich mei­ne: ein Mann ohne Kopf!« »Un­sinn! Es ist ir­gend­ei­ne Ta­schen­spie­le­rei! Er hat die Klei­der ab­ge­wor­fen –«

      In dem Be­stre­ben, durch die of­fe­ne Tür zu bli­cken, keil­te sich die Men­ge zu­sam­men, wo­bei die Wag­hal­sigs­ten dem Wirts­hau­se zu­nächst zu ste­hen ka­men. »Er stand einen Au­gen­blick still, ich hör­te das Mäd­chen auf­schrei­en, dann wand­te er sich um. Ich sah ihre Rö­cke flie­gen, als er ihr nach­eil­te. Kei­ne zehn Se­kun­den dau­er­te es. Mit ei­nem Mes­ser und ei­nem Laib Brot in der Hand kam er zu­rück, ge­ra­de als ob er halb ver­hun­gert wäre. Es ist noch kei­ne Mi­nu­te her. In die­se Tür ging er hin­ein. Ich sage euch, er hat über­haupt kei­nen Kopf –«

      Von rück­wärts kam Be­we­gung in die dicht­ge­dräng­te Men­ge. Der Red­ner brach ab, um einen klei­nen Zug vor­bei­zu­las­sen, der sehr ent­schlos­sen auf das Haus zu­ging. Voran schritt Mr. Hall, mit ge­röte­tem Ge­sicht und sehr ent­schlos­se­ner Mie­ne, dann Mr. Bob­by Jaf­fers, der Dorf­gen­darm, und zu­letzt der so vor­sich­ti­ge Mr. Wad­gers. Sie ka­men mit ei­nem Ver­haf­tungs­be­fehl aus­ge­rüs­tet.

      Die Leu­te ga­ben ih­nen wi­der­spre­chen­de Be­rich­te über die jüngs­ten Er­eig­nis­se. »Kopf hin, Kopf her«, sag­te Jaf­fers, »ich habe den Auf­trag, ihn zu ver­haf­ten, und ver­haf­ten wer­de ich ihn.«

      Mr. Hall stieg die Stu­fen hin­auf, di­rekt auf die Tür des Gast­zim­mers zu, die er of­fen fand. »Herr Gen­darm«, sag­te er, »tun Sie Ihre Pf­licht.«

      Jaf­fers ging vor­an, Hall folg­te, Wad­gers be­schloss den Zug. In dem spär­li­chen Licht sa­hen sie sich der kopf­lo­sen Ge­stalt ge­gen­über, die eine Brot­krus­te in der einen, den Rest ei­nes Stückes Käse in der an­de­ren be­klei­de­ten Hand hielt.

      »Da ist er«, sag­te Hall.

      »Was zum Teu­fel ist das?«, klang es in är­ger­li­chem Tone aus dem Rock­kra­gen der Ge­stalt her­aus.

      »Sie sind ein ver­dammt merk­wür­di­ger Kun­de, Herr«, sag­te Jaf­fers. »Aber mit oder ohne Kopf, der Ver­haft­be­fehl sagt ›Per­son‹, und Pf­licht ist Pf­licht.«

      »Drei Schritt vom Lei­be!«, sag­te die Ge­stalt, zu­rück­wei­chend.

      Plötz­lich warf er Brot und Käse zu Bo­den und Hall er­griff das Mes­ser auf dem Tisch nur eben noch recht­zei­tig, um ihm zu­vor­zu­kom­men. Den lin­ken Hand­schuh schleu­der­te der Frem­de in Jaf­fers Ge­sicht. Der letz­te­re hielt so­fort in sei­nen Er­klä­run­gen be­züg­lich des Ver­haft­be­fehls inne, pack­te den Frem­den im nächs­ten Mo­ment beim hand­lo­sen Arm­ge­lenk und um­klam­mer­te sei­ne un­sicht­ba­re Keh­le. Er be­kam einen hef­ti­gen Stoß ans Schien­bein, der ihn auf­schrei­en ließ, aber er lo­cker­te sei­nen Griff nicht. Hall ließ das Mes­ser längs des Ti­sches zu Wad­gers hin­über­glei­ten, der so­zu­sa­gen den Mal­wär­ter der an­grei­fen­den Par­tei re­prä­sen­tier­te, und tat dann einen Schritt nach vor­wärts, ge­ra­de als Jaf­fers und der Frem­de im Ring­kampf auf ihn zu­ka­men. Ein Stuhl stand im Wege und wur­de ge­räusch­voll zur Sei­te ge­schleu­dert, als die bei­den zu Bo­den stürz­ten.

      »Packt sei­ne Füße«, sag­te Jaf­fers zwi­schen den Zäh­nen durch.

      Mr. Hall, der die­ser Wei­sung so­gleich nach­zu­kom­men ver­such­te, be­kam einen hef­ti­gen Stoß zwi­schen die Rip­pen, der ihn für kur­ze Zeit kampf­un­fä­hig mach­te. Und Mr. Wad­gers zog sich, als er sah, dass der kopf­lo­se Frem­de die Ober­hand über Jaf­fers ge­won­nen hat­te, mit dem Mes­ser in der Hand ge­gen die Tür zu­rück, wo er auf Mr. Hux­ter und den Fuhr­mann aus Si­der­bridge stieß, die dem Ge­setz und der staat­li­chen Ord­nung zu Hil­fe kom­men woll­ten. Im sel­ben Au­gen­blick wur­den drei oder vier Fla­schen vom Wä­sche­schrank her­ab­ge­schleu­dert und ver­brei­te­ten einen ste­chen­den Ge­ruch im Zim­mer.

      »Ich will mich er­ge­ben!«, rief der Frem­de, ob­gleich er Jaf­fers un­ter sich hat­te. Im nächs­ten Au­gen­blick stand er keu­chend auf, eine selt­sa­me Ge­stalt ohne Kopf und ohne Hän­de, denn er hat­te jetzt auch den rech­ten Hand­schuh ab­ge­zo­gen. »Es hilft nichts«, sag­te er, wie nach Atem rin­gend.

      Es war die son­der­bars­te Sa­che der Welt, die­se Stim­me aus der Luft kom­men zu hö­ren; aber die Bau­ern in Sus­sex zäh­len zu den tro­ckens­ten Ver­stan­des­men­schen un­ter der Son­ne. Jaf­fers er­hob sich und brach­te ein paar Hand­schel­len zum Vor­schein. Dann hielt er ver­dutzt inne.

      »Zum Kuckuck!«, rief er, als ihm die gan­ze Un­ge­reimt­heit der Si­tua­ti­on nach und nach zum Be­wusst­sein kam. »Ver­dammt! Die Hand­schel­len sind nutz­los, wie ich sehe.«

      Der Frem­de ließ den Arm längs sei­ner Wes­te her­ab­glei­ten, und wie durch ein Wun­der lös­ten sich die Knöp­fe, auf wel­che sein lee­rer Är­mel deu­te­te. Dann sag­te er et­was von sei­nem Schien­bein und beug­te sich nie­der. Er schi­en an sei­nen Schu­hen und So­cken zu zer­ren.

      »Oh!«, rief Hux­ter plötz­lich, »das ist ja gar kein Mensch, das sind lee­re Klei­der. Man kann in sei­nen Kra­gen und das Rock­fut­ter hin­ein­se­hen. Ich könn­te mei­nen Arm – – –«

      Er streck­te die Hand aus; sie schi­en mit­ten in der Luft auf et­was zu sto­ßen und er zog sie mit ei­nem Ruf des Er­stau­nens zu­rück. »Ich woll­te, Sie lie­ßen mein Auge in Ruhe«, rief die Stim­me in der Luft wü­tend. »Tat­sa­che ist, dass ich ganz hier bin – Kopf, Hän­de, Bei­ne und al­les üb­ri­ge. Nur bin ich un­sicht­bar. Es ist ver­dammt un­an­ge­nehm, aber es ist so. Ist das ein Grund, um mich von je­dem dum­men Lüm­mel in Iping in Stücke schla­gen zu las­sen?«

      Die Klei­dungs­stücke, die jetzt alle auf­ge­knöpft und lose an dem un­sicht­ba­ren Halt hin­gen, stan­den auf, die Arme in die Sei­ten ge­stemmt.

      Meh­re­re an­de­re Män­ner wa­ren in­zwi­schen ins Zim­mer ge­kom­men, so­dass es dicht be­setzt war. »Un­sicht­bar, so?«, sag­te Hux­ter, ohne des Frem­den Schimp­fen zu be­ach­ten. »Wer hat je et­was der­glei­chen ge­hört?«

      »Es mag son­der­bar sein, aber es ist doch kein Ver­bre­chen. Wa­rum wer­de ich von der Po­li­zei in sol­cher Wei­se an­ge­grif­fen – –«

      »Ah, das ist ein an­de­res Ka­pi­tel«, ent­geg­ne­te Jaf­fers. »Bei die­ser Be­leuch­tung ist es al­ler­dings schwer, Sie zu se­hen, aber ich habe einen Ver­haft­be­fehl, und der ist ganz in Ord­nung. Wo­hin­ter ich her bin, ist nicht Un­sicht­bar­keit, son­dern Raub. Es ist in ei­nem Hau­se ein­ge­bro­chen und


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