H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

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Tie­re!«

      »Nicht wahr?«, stimm­te Mr. Mar­vel bei. »Gott, aber die­se Stie­fel! Das ist das Höchs­te!«

      Er wen­de­te den Kopf nach rechts, um die Stie­fel des an­de­ren mit den sei­ni­gen zu ver­glei­chen. Doch sie­he da! Wo die Stie­fel sei­nes Ge­fähr­ten hät­ten sein sol­len, wa­ren we­der Bei­ne noch Stie­fel. Er wen­de­te den Kopf nach links – aber auch da wa­ren we­der Bei­ne noch Stie­fel zu fin­den. Die dunkle Ah­nung ei­nes großen Wun­ders däm­mer­te in ihm auf. »Wo sind Sie?«, frag­te er, sich halb auf­rich­tend. Er sah nichts als ein Stück of­fe­nen Lan­des, die Düne, über wel­che der Wind strich, und grü­ne Baum­wip­fel in der Fer­ne.

      »Bin ich be­trun­ken?«, sprach Mr. Mar­vel zu sich selbst. »Sehe ich Ge­s­pens­ter? Habe ich mit mir selbst ge­spro­chen? Was zum –«

      »Er­schre­cken Sie nicht«, sag­te eine Stim­me.

      »Bei mir kom­men Sie mit Ih­rer Bauch­red­ne­rei schlecht an«, rief Mr. Tho­mas Mar­vel, schnell auf­sprin­gend. »Wo sind Sie? Er­schre­cken, sehr gut!«

      »Er­schre­cken Sie nicht«, wie­der­hol­te die Stim­me.

      »Du wirst gleich an­fan­gen zu er­schre­cken, du dum­mer Kerl«, sag­te Tho­mas Mar­vel. »Wo bist du? Wenn ich dich er­wi­sche –!«

      »Bist du in die Erde ver­gra­ben?«, frag­te er nach ei­ner Pau­se.

      Kei­ne Ant­wort. Aufs höchs­te be­trof­fen stand Mr. Tho­mas Mar­vel da, bar­fuß, mit halb of­fe­ner Ja­cke.

      »Pi­wit!«, rief ein Ki­bitz in der Fer­ne.

      »›Pi­wit!‹ ja­wohl!«, sag­te Mr. Tho­mas Mar­vel. »Jetzt ist kei­ne Zeit für dum­me Spä­ße!« Im Os­ten und Wes­ten, Nor­den und Sü­den war die Düne wie aus­ge­stor­ben. Die Stra­ße mit ih­ren seich­ten Grä­ben und wei­ßen Grenz­stei­nen lief glatt und men­schen­leer von Nord nach Süd, und bis auf den Vo­gel, der ge­ru­fen hat­te, war auch in der Luft und un­ter dem blau­en Him­mel Stil­le und Ver­las­sen­heit. »Gott ste­he mir bei«, sag­te Mr. Tho­mas Mar­vel, sei­nen Rock zu­knöp­fend, »das kommt vom Trin­ken. Ich hät­te es wis­sen kön­nen.«

      »Das kommt nicht vom Trin­ken«, er­wi­der­te die Stim­me. »Neh­men Sie Ihren Mut zu­sam­men.«

      »O!«, rief Mr. Mar­vel, und sein Ge­sicht wur­de so bleich, dass die ro­ten Fle­cken in dem­sel­ben noch stär­ker her­vor­tra­ten. »Das kommt vom Trin­ken«, wie­der­hol­ten sei­ne Lip­pen laut­los. Lang­sam zu­rück­tre­tend, blick­te er sich noch im­mer nach al­len Sei­ten um. »Ich hät­te schwö­ren kön­nen, dass ich eine Stim­me hör­te«, flüs­ter­te er.

      »Sie hör­ten sie auch.«

      »Da kommt es wie­der«, sag­te Mr. Mar­vel, schloss die Au­gen und leg­te mit tra­gi­scher Ge­bär­de die Hand an die Stirn. Plötz­lich wur­de er beim Kra­gen ge­packt und hef­tig ge­schüt­telt; ver­wirr­ter denn je blick­te er um sich.

      »Sei­en Sie kein Narr!«, sag­te die Stim­me.

      »Ich – habe – mei­nen – ge­seg­ne­ten – Ver­stand – ver­lo­ren!«, jam­mer­te Mr. Mar­vel. »Es hilft nichts. Ich habe mich zu viel über die­se ver­wünsch­ten Stie­fel auf­ge­regt. Ich habe mei­nen gu­ten, ge­sun­den Ver­stand ver­lo­ren. Oder sind es am Ende Ge­s­pens­ter?«

      »We­der das eine noch das an­de­re«, ent­geg­ne­te die Stim­me. »So hö­ren Sie doch!«

      »Mein Ver­stand!«, seufz­te Mr. Mar­vel.

      »Eine Mi­nu­te!«, sag­te die Stim­me ein­dring­lich; doch konn­te man her­aus­hö­ren, wie sie sich müh­sam Zu­rück­hal­tung auf­er­leg­te.

      »Nun?«, frag­te Mr. Mar­vel, wo­bei ihm das selt­sa­me Ge­fühl über­kam, als ob je­mand sei­ne Brust be­rüh­re.

      »Sie hal­ten mich also für eine Täu­schung, ein Trug­bild?«

      »Was könn­ten Sie sonst sein?«, frag­te Mr. Tho­mas Mar­vel, sich die Nase rei­bend.

      »Schön«, sag­te die Stim­me mit dem Tone der Er­leich­te­rung, »dann wer­de ich so lan­ge Kie­sel­stei­ne auf Sie wer­fen, bis Sie Ihre Mei­nung än­dern.«

      »Aber wo sind Sie denn?«

      Die Stim­me gab kei­ne Ant­wort. Flugs kam ein Kie­sel­stein, wie es schi­en, aus der Luft, und flog um ei­nes Haa­res Brei­te an Mr. Mar­vels Schul­ter vor­bei. Als die­ser sich um­wen­de­te, sah er einen zwei­ten Kie­sel­stein auf­sprin­gen, eine krum­me Li­nie in der Luft be­schrei­ben, einen Au­gen­blick lang still­ste­hen und dann mit schwin­del­er­re­gen­der Schnel­lig­keit auf sei­nen Fuß nie­der­fal­len. Mr. Mar­vel war zu ver­blüfft, um aus­zu­wei­chen. Wie ein Blitz war der Stein ge­kom­men, prall­te von ei­ner sei­ner blo­ßen Ze­hen ab und flog in den Gra­ben. Mr. Tho­mas Mar­vel sprang mit bei­den Fü­ßen zu­gleich in die Höhe und brüll­te laut. Dann woll­te er da­von­lau­fen, stürz­te aber über ein un­sicht­ba­res Hin­der­nis und kam un­frei­wil­lig auf dem Bo­den zu sit­zen.

      »Nun?«, frag­te die Stim­me, wäh­rend ein drit­ter Stein auf­wärts stieg und über dem Land­strei­cher in der Luft hing, »bin ich blo­ße Ein­bil­dung?«

      Statt je­der Ant­wort ver­such­te Mr. Mar­vel, sich zu er­he­ben, wur­de aber so­fort nie­der­ge­wor­fen. Ei­nen Au­gen­blick lag er still.

      »Wenn Sie sich noch ein­mal weh­ren«, droh­te die Stim­me, »wer­fe ich Ih­nen die­sen Stein an den Kopf!«

      »Wie soll ich das be­grei­fen?«, sprach Mr. Tho­mas Mar­vel zu sich. Er setz­te sich auf, griff nach der ver­wun­de­ten Zehe und hef­te­te den Blick auf das drit­te Wurf­ge­schoss. »Ich ver­ste­he es nicht. Stei­ne, die sich selbst wer­fen, Stei­ne, die spre­chen. Schaut, dass Ihr fort­kommt. Hol’ Euch der Hen­ker! Mit mir ist’s aus!«

      Der drit­te Kie­sel fiel her­ab.

      »Es ist ganz ein­fach«, sag­te die Stim­me. »Ich bin ein un­sicht­ba­rer Mensch.«

      »Was sonst noch?«, rief Mr. Mar­vel, vor Schmerz auf­schrei­end. »Wo steckst du denn, wie stellst du es denn an? Also, ich ge­ste­he, dass ich nicht be­grei­fe. Ich er­ge­be mich!«

      »Das ist al­les«, er­wi­der­te die Stim­me. »Ich bin un­sicht­bar. Und das sol­len Sie end­lich be­grei­fen!«

      »Das kann je­der se­hen. Sie brau­chen aber nicht so ver­dammt un­ge­dul­dig zu wer­den, Herr. Also, er­zäh­len Sie. Wie ha­ben Sie sich ver­steckt?«

      »Ich bin un­sicht­bar. Das ist die Haupt­sa­che. Und was ich Ih­nen bei­zu­brin­gen wün­sche, ist –«

      »Aber wo sind Sie denn?«, un­ter­brach Mr. Mar­vel.

      »Hier, sechs Schrit­te vor Ih­nen!«

      »Oh, hal­ten Sie mich nicht zum Nar­ren. Ich bin nicht blind. Sie wer­den mir nächs­tens er­zäh­len, dass Sie lee­re Luft sind. Ich bin nicht ei­ner von den un­wis­sen­den Land­strei­chern –«

      »Ja, ich bin lee­re Luft. Sie se­hen durch mich hin­durch.«

      »Ich bin ein mensch­li­ches We­sen wie Sie – das Nah­rung und Klei­dung braucht … Aber ich bin un­sicht­bar. Ver­ste­hen Sie? Un­sicht­bar. Der Ge­dan­ke ist


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