H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Von dem Schaden, den die Marsleute gestiftet hatten, sah ich nur wenig, bis ich zur Wellingtonstraße kam; dort erblickte ich wieder das rote Gewächs, das sich an die Strebebogen der Waterloobrücke anklammerte.
An der Ecke der Brücke fiel mir auch ein Bild in die Augen, dass in jener an krausen Gegensätzen überreichen Zeit zu den Alltäglichkeiten gehörte. Gegen ein Dickicht des roten Gewächses flatterte ein Blatt Papier, das ein Stab, der es durchlöcherte, festhielt. Es war der Anzeigebogen der ersten Zeitung, die ihren Betrieb wieder aufgenommen hatte, der »Daily Mail«. Für einen geschwärzten Shilling, den ich in meiner Tasche fand, kaufte ich mir ein Blatt. Der größte Teil des Papiers war leer; aber der einsame Verfasser, der es veröffentlichte, hatte sich damit vergnügt, das stereotype Schema eines »Kleinen Anzeigers« auf die Rückseite zu drucken. Der eigentliche Inhalt erschöpfte sich in Empfindungen; der Nachrichtendienst hatte noch nicht seinen Weg zurückgefunden. Ich erfuhr nichts Neues, außer dass schon binnen einer Woche die Prüfung der Werkzeuge der Marsleute zu erstaunlichen Ergebnissen geführt hatte. Unter anderem versicherte die Zeitung, was ich damals noch nicht glaubte, dass das Fluggeheimnis entdeckt worden sei. Im Bahnhof Waterloo fand ich schon die Gratiszüge bereit, welche die Leute in ihre Heimatsorte befördern sollten. Der erste Ansturm war schon vorüber. Es waren nur wenige Leute im Zug, und ich war nicht in der Stimmung, gelegentliche Gespräche anzuknüpfen. Ich erhielt eine Wagenabteilung für mich allein und saß mit verschränkten Armen da und blickte trüb auf die vom Sonnenlicht erhellten Bilder der Verwüstung, die an den Fenstern vorbeijagten. Gerade außerhalb des Bahnhofes polterte der Zug über provisorisch gelegte Schienen, und auf jeder Seite des Bahndammes lagen die Häuser in rauchgeschwärzten Trümmern. Bis zum Knotenpunkt von Clapham war das Antlitz Londons vom schwarzen Rauch verdunkelt, trotz zweier Tage heftigen Gewitterregens; und in Clapham war die Bahn wieder zerstört. Ich sah hunderte von arbeitslosen Schreibern und Ladenburschen, die Seite an Seite mit den gewöhnlichen Arbeitern sich mit der Ausbesserung der beschädigten Stellen beschäftigten; wir polterten lange Zeit auf hastig angelegten Dämmen.
Die ganze Bahnlinie entlang bot das Land einen trostlosen, fremdartigen Anblick. Besonders Wimbledon hatte schwer gelitten. Dank dem Widerstand seiner Fichtenwälder schien von allen Ortschaften an der Bahn Walton am Wenigsten von der Verwüstung getroffen worden zu sein. Der Wandle,1 der Mole, jeder kleine Bach war nichts als eine aufgetürmte Menge roten Gewächses, dessen Farbe die Mitte hielt zwischen frisch geschlachtetem Fleisch und Rotkraut. Die Nadelwälder von Surrey aber waren zu trocken für die Gehänge des roten Schlinggewächses. Hinter Wimbledon sah man mitten in einem Blumengarten die großen Erdhaufen, die der sechste Zylinder aufgeworfen hatte. Eine Anzahl von Leuten standen um die Grube herum, und einige Pioniere waren in voller Tätigkeit. Dicht dabei hatte man die britische Fahne aufgepflanzt, die lustig im Morgenwind hin- und herflatterte. Die Handelsgärten waren rot gefärbt vom roten Gewächs, eine weitgedehnte Fläche schreienden Rotes, von purpurnen Schatten unterbrochen; diese Farbenmischungen taten den Augen geradezu weh. Meine Blicke wandten sich mit unendlicher Erleichterung von dem versengten Grau und dem düsteren Rot des Vordergrundes nach dem sanften Blau-Grün der östlichen Hügel zu.
Der Fahrdamm der gegen London zu gerichteten Seite von Woking Station war noch nicht völlig hergestellt; so musste ich in Byfleet aussteigen. Ich schlug den Weg nach Maybury ein, an der Stelle vorbei, an der ich und der Artillerist mit den Husaren gesprochen hatten, und weiter zu den Weg, auf dem ich mitten im Gewitter dem Marsmann begegnet war. Von Neugierde bewegt, ging ich zur Seite und fand in einem Gewirr roten Geästes einen verbogenen und zerbrochenen Wagen und die weißen zernagten Knochen des Pferdes, die verstreut umherlagen. Eine Zeit lang blieb ich stehen, in den Anblick dieser Spuren versunken.
Dann kehrte ich, oft halstief im roten Gewächs watend, durch den Fichtenwald zurück, und sah, dass dem Wirt vom »Gefleckten Hund« schon ein Begräbnis zuteilgeworden war. Und so kam ich am »Collegiums-Wappen« vorbei zu meinem Haus. Ein Mann, der an der offenen Tür seines Häuschens stand, grüßte mich mit Namen, als ich vorüberging.
Ich sah auf mein Haus, von einem jähen Hoffnungsstrahl durchzuckt, der sofort wieder schwand. Das Tor war aufgesprengt worden; es war nur angelehnt und ging langsam auf, als ich näher kam.
Das Tor fiel wieder zu. Die Vorhänge des Arbeitszimmers flatterten durch das offene Fenster, von dem ich und der Artillerist den Anbruch des Tages erwartet hatten. Niemand hatte seither das Fenster geschlossen. Das zertretene Gebüsch war noch genau so, wie ich es vor fast vier Wochen verlassen hatte. Ich stolperte in den Flur und die Leere des Hauses bedrückte mich. Der Treppenläufer war überall verschoben und verfärbt, wo ich in jener Nacht des Schreckens, bis auf die Haut durchnässt, vor dem Gewitter flüchtend, gekauert hatte. Ich verfolgte die lehmigen Fußtritte die ganze Stiege hinauf.
Ich folgte ihnen bis zu meinem Arbeitszimmer und fand auf meinem Schreibtisch, von dem Briefbeschwerer aus Marienglas2 niedergehalten, noch einen Bogen der Arbeit, die ich an dem Nachmittag, da die Öffnung des ersten Zylinders vor sich gegangen war, liegengelassen hatte.
Eine Zeit lang stand ich da und las in dieser im Stich gelassenen Arbeit. Sie bestand in einer Abhandlung über die wahrscheinliche Übereinstimmung der Entwicklung sittlicher Vorstellungen mit der Entwicklung der Zivilisation; der letzte Satz war der Anfang einer Prophezeiung: »In zweihundert Jahren etwa«, hatte ich geschrieben, »dürfen wir erwarten …« Der Satz brach plötzlich ab. Ich erinnerte mich meiner Unfähigkeit, an jenem Morgen, seit dem kaum ein Monat verstrichen war, meine Gedanken zusammenzuhalten; erinnerte mich, wie ich plötzlich abgebrochen hatte, um mir meinen »Daily Chronicle« von dem Zeitungsjungen zu holen. Ich erinnerte mich, wie ich zur Gartentür hinabging, als der Junge herankam, und wie ich seinen sonderbaren Bericht von den »Männern vom Mars« anhörte.
Ich ging wieder hinab und trat ins Speisezimmer. Dort lagen der Hammelbraten und das Brot, beides nun längst verdorben, und eine umgeworfene Bierflasche, gerade so, wie ich und der Artillerist das alles verlassen hatten. Mein Heim war verödet. Ich begriff nun, wie unsinnig die leise Hoffnung war, die ich so lange gehegt hatte. Und jetzt geschah etwas Seltsames. »Es ist umsonst«, hörte ich eine Stimme sagen. »Das Haus ist verlassen. In den letzten zehn Tagen ist niemand hier gewesen. Du sollst nicht länger