H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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die za­cki­gen Trüm­mer von West­mins­ter rag­ten ne­bel­haft im Hin­ter­grund auf. In wei­ter Fer­ne sah ich die blau­en Hü­gel von Sur­rey, und die Tür­me von Cry­stal Palace schim­mer­ten wie zwei Sil­ber­stä­be. Die Kup­pel von St. Paul’s hob sich düs­ter vom Glanz der aus­ge­hen­den Son­ne ab, und war, wie ich jetzt erst sah, durch eine große klaf­fen­de Spal­tung an der West­sei­te be­schä­digt.

      Und als ich auf die­se stil­le und ver­las­se­ne Flä­che von Häu­sern, Fa­bri­ken und Kir­chen blick­te — als ich an die un­end­li­chen Hoff­nun­gen und Mü­hen, die zahl­lo­sen Scha­ren von Men­schen­le­ben dach­te, die der Bau die­ses Rie­sen­wer­kes ge­kos­tet hat­te, und an die pfeil­schnel­le und rohe Zer­stö­rung, die wie ein Ge­wit­ter über all dem ge­han­gen hat­te — als ich nun die Ge­wiss­heit hat­te, dass die schwe­ren Wol­ken­schat­ten wie­der ge­wi­chen wa­ren, und dass die Men­schen wie­der in die­sen Stra­ßen le­ben konn­ten und die­se mei­ne teu­re, rie­si­ge, tote Stadt wie­der zum Le­ben und zur Macht zu­rück­keh­ren wür­de — da wog­te ein Strom von Emp­fin­dun­gen durch mei­ne See­le, der mich fast dem Wei­nen na­he­brach­te.

      Die Qual war vor­über. Heu­te noch soll­te die Hei­lung be­gin­nen. Die über das gan­ze Land zer­sto­be­nen Über­le­ben­den — die füh­rer­los, recht­los, ohne Nah­rung wie Scha­fe ohne ih­ren Hir­ten um­her­irr­ten — die tau­sen­de, die zu Schiff ent­flo­hen wa­ren — alle soll­ten nun zu­rück­keh­ren. Der Puls des Le­bens soll­te, im­mer stär­ker und stär­ker an­schwel­lend, nun wie­der in den lee­ren Gas­sen schla­gen und sich über die ver­las­se­nen Plät­ze er­gie­ßen. Was die Ver­wüs­tung auch be­trof­fen hat­te, die Hand des Ver­wüs­ters war ver­dorrt. Die Hand des Ver­wüs­ters war ver­dorrt! Alle die­se elen­den Trüm­mer, die­se schwar­zen Ge­rip­pe von Häu­sern, die so un­heim­lich auf das son­nen­be­glänz­te Gras des Hü­gels starr­ten, sie wür­den bald wi­der­hal­len von den Häm­mern der Wie­de­rer­bau­er, und fröh­lich er­klin­gen un­ter dem Klop­fen der Kel­len. Bei die­sem Ge­dan­ken brei­te­te ich mei­ne Hän­de zum Him­mel aus. In ei­nem Jahr, dach­te ich — in ei­nem Jahr…

      Und dann kam mit über­wäl­ti­gen­der Kraft der Ge­dan­ke an mich selbst, an mein Weib, und an das alte Le­ben voll Hoff­nung und zar­ter Hil­fe, das für im­mer ge­schwun­den war.

      1 Sin-ahhe-eri­ba war als Sohn Sar­g­ons II. von 705 bis 680 v. Chr. as­sy­ri­scher Kö­nig <<<

      2 Bahn­hof ei­nes Vier­tels in Lon­don <<<

      IX. Die Verwüstung

      Und nun kommt das Selt­sams­te in mei­ner Ge­schich­te, und doch ist es ei­gent­lich gar nicht so selt­sam. Klar und kühl und leb­haft er­in­ne­re ich mich an al­les, was ich an je­nem Tag tat, bis zu je­ner Zeit, da ich auf der Spit­ze von Prim­ro­se Hill stand.

      Von den nächs­ten drei Ta­gen weiß ich nichts. Seit­her er­fuhr ich, dass nicht ich der ers­te Ent­de­cker des Zu­sam­men­bruchs der Mars­leu­te war, son­dern dass ei­ni­ge gleich mir in der Irre wan­dern­de Über­le­ben­de in der vo­ri­gen Nacht ihn ent­deckt hat­ten. Ein Mann — der ers­te — war nach St. Mar­tins-le-Grand ge­gan­gen; und wäh­rend ich in der Kut­scher­her­ber­ge Zuf­lucht ge­fun­den hat­te, war es ihm ge­glückt, nach Pa­ris zu te­le­gra­fie­ren. Und von dort zuck­te die freu­di­ge Bot­schaft über den gan­zen Erd­kreis; tau­sen­de von Städ­ten, die von grau­en­vol­len Vor­stel­lun­gen er­schüt­tert wa­ren, ga­ben sich nun der wil­des­ten Be­geis­te­rung hin; man wuss­te es schon in Dub­lin, Edin­bur­gh, Man­che­s­ter und Bir­ming­ham, zu je­ner Zeit, da ich noch zwei­felnd am Ran­de der Gru­be stand. Schon rüs­te­ten die Men­schen, vor Freu­de wei­nend und ju­belnd — die, wie ich hör­te, ihre Ar­beit un­ter­bra­chen, nur um sich die Hän­de zu schüt­teln und zu ju­beln, Ei­sen­bahn­zü­ge aus — so­gar schon in Cre­we, um nach Lon­don zu kom­men. Die Kir­chen­glo­cken, die vier­zehn Tage lang ver­stummt wa­ren, fin­gen die Nach­richt auf, und ganz Eng­land war ein Glo­cken­ge­läu­te. Her­un­ter­ge­kom­me­ne Män­ner mit ein­ge­fal­le­nen Zü­gen saus­ten auf Rä­dern alle Wege ent­lang, um die un­ver­hoff­te Er­lö­sungs­bot­schaft den ha­ge­ren, wild drein­star­ren­den Ge­schöp­fen der Verzweif­lung zu­zu­ru­fen. Und die Le­bens­mit­tel! Über den Kanal, über die Iri­sche See, über den At­lan­ti­schen Ozean brach­te man Ge­trei­de, Brot und Fleisch, um un­se­rer Not zu hel­fen. In je­nen Ta­gen schi­en es, als steu­er­ten die Schif­fe der gan­zen Welt Lon­don zu. Aber von all­dem wuss­te ich nichts. Ich irr­te um­her — ein sei­nes Ver­stan­des be­raub­ter Mann. In dem Haus gü­ti­ger Men­schen, die mich auf­ge­grif­fen hat­ten, als ich wei­nend und ra­send in den Gas­sen von St. Johns-Wood um­her­streif­te, kam ich wie­der zu mir. Sie er­zähl­ten mir, dass ich un­auf­hör­lich einen sinn­lo­sen Gas­sen­hau­er sang, so ähn­lich wie »Der letz­te, der am Le­ben blieb, hur­ra! Der letz­te, der am Le­ben blieb!« So sehr sie auch von ih­ren ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten be­küm­mert wa­ren, be­las­te­ten die­se Men­schen, de­ren Na­men ich nicht nen­nen darf, so ger­ne ich ih­nen auch mei­ne Dank­bar­keit zei­gen möch­te, sich den­noch auch mit mir, ga­ben mir Ob­dach, und be­schütz­ten mich vor mir selbst. Of­fen­bar hat­ten sie wäh­rend der Tage mei­nes Ir­re­seins man­ches von mei­nen Er­leb­nis­sen er­fah­ren.

      Als mei­ne Ver­nunft wie­der zu­rück­ge­kehrt war, brach­ten sie mir sehr zart das We­ni­ge bei, was sie vom Schick­sal Lea­ther­heads in Er­fah­rung ge­bracht hat­ten. Zwei Tage nach mei­ner Ein­ker­ke­rung in Sheen war das Dorf, mit je­der le­ben­den See­le dar­in, von ei­nem Mars­mann zer­stört wor­den. Er hat­te es dem Erd­bo­den gleich­ge­macht, ohne je­den Grund. Wie es schi­en, ganz so, wie etwa ein Kna­be aus blo­ßer Lust, sei­ne Macht füh­len zu las­sen, einen Amei­sen­hau­fen zer­stampft.

      Ich war ein ein­sa­mer Mann, und jene wa­ren sehr gü­tig ge­gen mich. Ich war ein­sam und trau­rig, und doch dul­de­ten mich jene bei sich. Nach mei­ner Er­ho­lung blieb ich noch vier Tage bei ih­nen. Wäh­rend die­ser gan­zen Zeit fühl­te ich eine un­be­stimm­te wach­sen­de Sehn­sucht, noch ein Mal, ein letz­tes Mal, einen Blick zu tun auf das We­ni­ge, was von dem klei­nen Le­ben üb­rig ge­blie­ben war, das so glück­lich und hell in mei­ner Ver­gan­gen­heit ge­leuch­tet hat­te Es war nur ein hoff­nungs­lo­ses Seh­nen, noch ein­mal in mei­nem Jam­mer zu schwel­gen. Mei­ne Wirts­leu­te rie­ten mir ab. Sie ta­ten al­les, was sie konn­ten, um mich von die­sem krank­haf­ten Ver­lan­gen ab­zu­brin­gen. Aber end­lich konn­te ich die­ser Ein­ge­bung nicht län­ger wi­der­ste­hen; ich gab ih­nen das fes­te Ver­spre­chen, zu ih­nen zu­rück­zu­keh­ren, und ver­ab­schie­de­te mich, wie ich be­ken­nen muss, mit Trä­nen von die­sen Men­schen, die in vier Ta­gen mir zu Freun­den ge­wor­den wa­ren, dann ging ich wie­der in die Stra­ßen hin­aus, die jüngst noch so düs­ter und selt­sam und öde ge­we­sen wa­ren.

      Schon aber wa­ren sie wie­der er­füllt von zu­rück­keh­ren­den Men­schen; hie und da wa­ren schon wie­der Ge­schäf­te of­fen, und ein Spring­brun­nen spen­de­te wie­der fri­sches Was­ser.

      Ich er­in­ne­re mich noch des fast höh­nend schö­nen Ta­ges, an dem ich mei­ne trau­ri­ge Pil­ger­fahrt nach dem klei­nen Haus in Wo­king an­trat, wie ge­schäf­tig die Stra­ßen wa­ren, wie frisch sich das Le­ben wie­der rings um mich reg­te. Es war eine sol­che Un­zahl von Men­schen, die sich in tau­send Be­schäf­ti­gun­gen


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