H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
zuhause, aus Angst vor den Hintergassen; dann schlafen sie mit den Weibern, die sie geheiratet haben, nicht weil sie sie gern hatten, sondern weil diese Weiber ein Stück Geld hatten, das ihrem jämmerlichen Durch-das-Leben-keuchen einen kleinen Rückhalt bot. Sie haben ihr Leben versichert und ein bisschen zurückgelegt aus Furcht vor möglichen Unfällen. Und an Sonntagen — Furcht vor dem Jenseits. Als ob die Hölle für Kaninchen gebaut worden wäre. Nun, für diese Leute sind die Marsleute eine wahre Gottesgabe. Nette, geräumige Käfige, fettbildendes Futter, sorgfältige Züchtung, keine Plage. Nachdem sie eine Woche oder dergleichen mit leerem Magen durch Felder und Heiden gejagt sind, dann werden sie kommen und sich mit Vergnügen fangen lassen. Nach kurzer Zeit werden sie ganz fröhlich sein. Sie werden sich verwundert fragen, was denn die Leute früher taten, als es noch keine Marsleute gab, die für sie sorgten. Und die Kneipenhelden und die Pflastertreter und die Sänger — die kann ich mir ordentlich vorstellen. Die kann ich mir vorstellen«, sagte er mit einer Art düsterer Genugtuung. »Alle Art von Gefühlsduselei und Glauben wird dann massenhaft frei werden. Es gibt hundert Dinge, die ich mit diesen meinen Augen gesehen habe, und die ich erst in diesen letzten paar Tagen zu verstehen begonnen habe. Da wird es Massen geben, die, fett und dumm, die Dinge nehmen werden, wie sie sind. Und wieder andere Massen, die von einer Art Gefühl gequält sein werden, dass nichts mit rechten Dingen zugeht, und dass sie etwas dagegen tun sollten. Nun aber, sobald die Dinge so stehen, dass eine Menge von Leuten die Empfindung hat, etwas tun zu müssen, dann werfen sich die Schwachen und jene, die vor lauter verwickeltem Denken schwach werden, einer Religion des Nichtstuns in die Arme, die sehr fromm und erhaben ist und sich jeder Verfolgung als dem Willen des Herrn unterwirft. Sehr wahrscheinlich haben Sie ganz dasselbe beobachtet. Das ist die Energie der feigen Angst, die jetzt zum Vorschein kommen wird. Diese Käfige werden von Psalmen und Lobgesängen und Frömmigkeit erfüllt sein. Und alle die Leute von weniger einfacher Gesinnung werden sich einer Religion mehr fleischlicher Genüsse hingeben.«
Er machte eine Pause.
»Es ist leicht möglich, dass die Marsleute einige Lieblinge unter ihnen haben werden; sie in ihren Schlichen und Kniffen unterweisen und — wer weiß? — vielleicht sentimental werden wegen des Lieblingsknaben, der aufwuchs und getötet werden musste. Und es mag sein, dass sie einige auch abrichten werden, auf uns andere Jagd zu machen.«
»Nein«, rief ich, »das ist unmöglich! Kein menschliches Wesen — — «
»Was nützt es denn, heute noch solche Lügen aufrechtzuerhalten?«, sagte der Artillerist. »Es gibt Menschen, die das mit Vergnügen tun werden. Ein Unsinn, zu behaupten, solche Menschen gebe es nicht!«
Und ich erlag seiner Überzeugung.
»Wenn die mir in die Nähe kommen werden«, sagte er — »Herr Gott! Wenn die mir in die Nähe kommen werden!«, und er verfiel in eine Art grimmigen Brütens.
Ich saß da und dachte über alle diese Dinge nach. Und es fiel mir nichts ein, womit ich den Gedankengang dieses Mannes widerlegen hätte können. In den Tagen vor dem Einbruch der Marsleute hätte wohl niemand meine geistige Überlegenheit über die seine in Frage gestellt. — Ich, ein erfahrener und anerkannter Schriftsteller philosophischer Werke, und er, ein gemeiner Soldat — und dennoch hatte er sich unsere Lage in einer Weise zurechtgelegt, die ich kaum zu träumen gewagt hatte.
»Und was wollen Sie tun?«, fragte ich nach einiger Zeit. »Was für Pläne haben Sie sich ausgedacht?«
Er zögerte.
»Nun, ich denke mir das etwa so«, sagte er. »Was haben wir zu tun? Wir müssen uns eine Art Leben ersinnen, in dem die Menschen leben und sich vermehren können und genügende Bürgschaft besitzen, ihre Kinder aufzubringen. Warten Sie ein wenig, ich werde Ihnen, was nach meiner Meinung geschehen muss, klarer machen. Die Zahmen werden gedeihen, wie alle zahmen Tiere; nach einigen Geschlechtern werden sie dick, schön vollblütig, dumm sein — mit einem Wort: Schund! Es besteht nur die Gefahr, dass wir, die Wilden, mit der Zeit verwildern; — und entarten zu einer Art großen, wilden Ratten … Sie sehen schon, wie unser Leben sein wird: unterirdisch. Ich habe dabei an die Kanäle gedacht. Natürlich, alle, welche die Kanäle nicht kennen, stellen sie sich nur als etwas Scheußliches vor; aber unter diesem London gibt es Meilen und Meilen — Hunderte von Meilen — solcher Kanäle; und wenn es ein paar Tage regnet und London entvölkert ist, so sind sie rein und angenehm. Die Hauptkanäle sind groß und luftig für jedermann. Dann haben wir Keller, Gewölbe, Vorratsräume, von denen Notausgänge in die Kanäle hergestellt werden können. Und dann die Eisenbahntunnels und die Unterpflasterwege. Was? Sie fangen an zu begreifen? Und wir bilden einen Verband, Männer mit starkem Körper und reiner Gesinnung. Wir werden nicht jeden Abfall, der uns zutreibt, auflesen. Schwächlinge müssen wieder hinaus.«
»So, wie Sie mich wegstoßen wollten?«
»Oh, ich unterhandelte doch mit Ihnen? Oder nicht?«
»Nun, wir wollen darüber nicht streiten. Aber fahren Sie fort, bitte.«
»Die, welche bleiben, müssen blindlings gehorchen. Weiber mit starkem Körper und reiner Gesinnung brauchen wir nicht minder — als Mütter und Lehrerinnen. Keine schmachtenden Püppchen, keine albernen Augenverdreherinnen. Schwache und Dämliche können wir nicht brauchen. Das Leben wird ernst sein und die Nutzlosen und Lästigen und Böswilligen müssen sterben. Sie haben einfach zu sterben. Sie müssen einsehen, dass sie zu sterben haben. Es ist eine Art von Hochverrats, dann noch zu leben und die Rasse zu verschlechtern. Und sie können auch nie glücklich sein. Überdies, sterben ist nicht so schrecklich — es ist nur die Angst, die es so arg macht. — Und an allen jenen Orten werden wir uns versammeln. Unser Sammelplatz wird London sein. Und vielleicht werden wir sogar imstande sein, Wachen aufzustellen und im Freien umherzulaufen, wenn die Marsleute fern sind. Vielleicht Cricket spielen. Auf die Weise werden wir die Rasse erhalten. Was? Aber mit dem Erhalten der Rasse ist noch nichts getan. Wie ich sage, das heißt nur Ratten züchten. Unsere Kenntnisse zu erhalten und zu vermehren, darauf kommt es an. Da müssen Männer wie Sie daran. Da gibt’s Bücher, da gibt’s Modelle. Wir müssen große sichere Räume tief drunten errichten und so viel Bücher zu kriegen suchen, wie wir können; nicht Romane und erdichtetes Gewäsch, sondern Gedanken, wissenschaftliche Bücher. Da wird es an der Zeit sein, dass Männer wie Sie dran müssen. Wir müssen ins Britische Museum gehen und alle die Bücher dort durchforschen. Besonders aber müssen wir unsere Kenntnisse auf der Höhe erhalten und mehr dazu lernen. Wir müssen diese Marsleute