H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
in einem Gebüsch, da meine geschwächten Kräfte mir nicht erlaubten, weiterzugehen.
Während dieser ganzen Zeit sah ich kein menschliches Wesen, noch auch Anzeichen von Marsleuten. Ich begegnete zwei hungrig aussehenden Hunden, aber beide liefen in weitem Bogen davon, als ich ihnen näherkam. In der Nähe von Roehampton sah ich zwei menschliche Gerippe — nicht Leichen, sondern reingenagte Gerippe — und im Gehölz neben mir stieß ich auf gebrochene und verstreut liegende Knochen einiger Katzen und Kaninchen und den Schädel eines Schafes. Aber als ich sie teilweise zu benagen begann, wollte sich nichts Genießbares daran finden.
Nach Sonnenuntergang schleppte ich mich auf der Straße gegen Putney weiter, wo, wie ich glaube, aus besonderen Gründen der Hitzestrahl in Anwendung gekommen sein musste. In einem Garten hinter Roehampton fand ich eine Anzahl unreifer Kartoffeln, hinreichend, um meinen Hunger zu stillen. Von diesem Garten aus konnte man auf Putney und den Fluss hinabsehen. In der Dämmerung bot dieser Ort ein Bild trostlosester Verwüstung; geschwärzte Bäume, geschwärzte, traurige Mauertrümmer, und den Hügel abwärts die weiten Flächen des aus den Ufern getretenen Wassers, von dem Marskraut rot gefärbt. Und über allem — die große Stille. Ein unbeschreibliches Entsetzen kam über mich, als ich dachte, wie schnell diese trostlose Veränderung hereingebrochen war.
Eine Zeit lang glaubte ich, dass die Menschheit einfach ausgerottet, und dass ich nun ganz allein übrig geblieben sei, der letzte, lebende Mensch. Dicht am Gipfel von Putney Hill stieß ich wieder auf ein Gerippe, dessen Arme abgetrennt und einige Yard vom Körper entfernt lagen.
Als ich weiterging, wurde ich immer mehr und mehr überzeugt, dass die Ausrottung der Menschheit, von einigen Verirrten, wie von mir abgesehen, in diesem Teil der Welt bereits eine vollendete Tatsache war. Ich vermutete, dass die Marsleute fortgegangen seien, das Land hinter sich verwüstet hätten und jetzt irgendwo anders nach Nahrung suchten: vielleicht waren sie eben daran, Berlin oder Paris zu zerstören, vielleicht auch hatten sie sich nach Norden gewendet.
VII. Der Mann auf Putney Hill
Ich verbrachte diese Nacht in einem Gasthof, der auf der Spitze von Putney Hill steht. Seit meiner Flucht nach Leatherhead war es das erste Mal, dass ich in einem gemachten Bett lag. Ich will mich nicht mit der Beschreibung der unnötigen Mühe, die ich hatte, als ich ins Haus eindringen wollte — später fand ich, dass das Tor gar nicht verschlossen war — noch damit aufhalten, wie ich jeden Raum nach Lebensmitteln durchstöberte, bis endlich, als meine Verzweiflung das äußerste Maß erreichte, ich in einem Gelass, das ich für ein Dienstbotenzimmer hielt, eine rattenzernagte Brotkruste und zwei Büchsen mit Ananas fand. Das Haus war offenbar schon durchsucht und ausgeplündert worden. Im Schankraum entdeckte ich später noch etwas Zwieback und Butterbrötchen, die übersehen worden waren. Diese konnte ich nicht mehr genießen, jene aber stillten nicht nur meinen Hunger, sondern füllten auch meine Taschen. Ich steckte kein Licht an, da ich fürchtete, ein Marsmann könne in der Nacht diesen Teil Londons nach Nahrung durchsuchen. Ehe ich zu Bett ging, hatte ich eine Anwandlung von Rastlosigkeit und hastete von einem Fenster zum anderen, um nach einem Anzeichen jener Ungetüme auszuspähen. Ich schlief wenig. Als ich im Bett lag, wurde ich von einer unausgesetzten Gedankenarbeit gepeinigt — eine Erscheinung, von der, seit meinen Auseinandersetzungen mit dem Kuraten, ich mich nicht erinnere, gequält worden zu sein. Während dieser ganzen Zwischenzeit bestand meine geistige Verfassung in nichts anderem als in einer hastenden Aufeinanderfolge von unbestimmten Gefühlszuständen oder in einer Art stumpfer Aufnahmefähigkeit. In dieser Nacht gewann mein Hirn, durch die Nahrung, die ich zu mir genommen, wie ich vermute, gekräftigt, wieder seine frühere Klarheit und ich konnte wieder denken.
Drei Dinge rangen in meinem Geist um die Herrschaft: die Tötung des Kuraten, der Aufenthaltsort und die Tätigkeit der Marsleute, und das Schicksal meiner Frau. Das erste rief in mir kein wie immer geartetes Gefühl von Entsetzen oder Reue wach; ich nahm es einfach als eine geschehene Tatsache hin, als eine unsäglich peinliche Erinnerung, aber völlig ohne die Merkmale der Reue. Ich beurteilte mich, damals, wie ich mich jetzt beurteile, Schritt für Schritt zu jener schnellen Tat getrieben, als das Geschöpf einer Reihe von Zufällen, die unvermeidlich zu jenem Abschluss hinleiteten. Ich hielt mich nicht für verdammenswert; dennoch aber lastete die Erinnerung daran auf mir, stetig, unverrückbar. In der Stille der Nacht, mit jenem Gefühl der Nähe zu Gott, das einen manchmal in der Stille und in der Dunkelheit überkommt, bestand ich mein Verhör, mein einziges Verhör wegen jenes Augenblickes der Wut und der Angst. Ich rief mir jedes Wort unserer Unterredung ins Gedächtnis zurück, von jenem Augenblick an, als ich ihn zusammengekauert neben mir fand, als er, meines Durstes nicht achtend, nach dem Feuer und dem Rauch wies, der aus den Trümmern von Weybridge aufstieg. Zu gemeinsamer Mitarbeit waren wir unfähig gewesen — der grimmige Zufall aber hatte sich nicht darum gekümmert. Hätte ich in die Zukunft blicken können, hätte ich ihn in Halliford gelassen! Aber ich konnte nicht vorhersehen, was kam. Verbrechen aber ist, vorhersehen und doch tun. Und ich schreibe das nieder, wie ich diese ganze Geschichte niedergeschrieben habe, so wie sie war. Ich hatte keine Zeugen — ich hätte alle diese Dinge verheimlichen können. Aber ich schreibe sie nieder und der Leser mag sich nach seinem Gutdünken sein Urteil bilden.
Als ich mich dann aufraffte, um das Bild jenes hingestreckten Körpers aus meiner Seele zu bannen, fasste ich wieder die schweren Fragen ins Auge, die ich mir über die Marsleute und über das Schicksal meiner Frau stellte. Für beides hatte ich keine Anhaltspunkte; ich konnte mir hundert verschiedene Vorstellungen machen, sowohl über die Marsleute, als, unselig genug, auch über meine Frau. Und ganz plötzlich wurde mir diese Nacht zu einer Nacht des Schreckens. Ich fand mich in meinem Bett aufsitzend und starrte in die Finsternis hinein. Ich hörte mich beten, dass der Hitzestrahl sie unvermutet und schmerzlos aus diesem Leben nehme. Seit jener Nacht meiner Rückkehr aus Leatherhead hatte ich nicht mehr gebetet. Ich hatte Stoßgebete gestammelt, Fetischgebete, hatte gebetet, wie Heiden Beschwörungszauberformeln murmeln, als ich in äußerster Gefahr schwebte. Jetzt aber betete ich wirklich, inbrünstig und bei voller Besinnung, flehte von Angesicht zu Angesicht in der Dunkelheit Gottes. Seltsame Nacht! Am seltsamsten darin, dass, sobald der Tag graute, ich, der mit Gott gesprochen hatte, aus dem Haus schlich, wie eine Ratte, die ihr Versteck verlässt — ein Geschöpf, kaum größer als sie, ein niedriges Tier, ein Ding, das die flüchtige Laune unserer Meister jagen