H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
ich erschöpft, aber entschlossen, er weinend und über seinen großen Hunger klagend. Ich weiß, es war nur eine Nacht und ein Tag, aber mir schien es — und scheint mir noch heute eine unermesslich lange Zeit.
Und so endete die Unverträglichkeit unserer Neigungen und Anlagen im offenen Streit. Zwei ewige Tage lang balgten wir uns in Flüstertönen und Faustkämpfen. Es gab Zeiten, in denen ich mit Schlägen und Fußtritten ihn wie toll bearbeitete und Zeiten, da ich ihm schmeichelte und zu überreden trachtete. Und einmal versuchte ich, ihn mit einer Flasche Burgunder zu bestechen, denn es war eine Regenwasserpumpe vorhanden, mittels der ich mir Wasser verschaffen konnte. Aber da half weder Gewalt noch Güte; er war in der Tat schon von Sinnen. Er verstand sich weder dazu, seine Angriffe auf die Speisevorräte aufzugeben, noch hörte er auf, laut mit sich selber zu schwätzen. Die allernotwendigsten Vorsichtsmaßregeln, die unsere Gefangenschaft erträglich machten, wollte er nicht beobachten. Allmählich begann ich, mir den vollständigen Zusammenbruch seiner Geisteskräfte klar zu machen, zu begreifen, dass mein einziger Gefährte in dieser dumpfen und widerlichen Finsternis ein Wahnsinniger war.
Einige unklare Erinnerungen bestimmen mich zu glauben, dass auch meine Gedanken zu Zeiten sich verwirrten. Ich hatte seltsame und furchtbare Träume, so oft ich einschlief. Es klingt sonderbar, aber ich bin geneigt, zu glauben, dass die Schwachheit und der Wahnsinn des Kuraten mich warnten, stählten und vernünftig erhielten.
Am achten Tage begann er laut zu sprechen, statt zu flüstern, und was ich auch tat, nichts konnte ihn bewegen, seine Sprache zu mäßigen.
»Es ist gerecht, o Gott!«, rief er ein Mal übers andere. »Es ist gerecht, über mich und die Meinen komme Dein Grimm. Wir haben gesündigt, wir sind zu leicht befunden worden. Da war Armut, da war Kummer; die Armen wurden in den Staub getreten, nichts aber störte meinen Frieden. Ich predigte einen hübschen Unsinn — mein Gott, was für einen Unsinn! — als ich hätte aufstehen sollen und sollte ich dafür auch des Todes sterben, und rufen sollen: Tut Buße, Buße! Ihr Bedrücker der Armen und Elenden. – Die Weinpresse des Herrn!«
Dann kehrten seine Gedanken unvermutet wieder zum Essen zurück, das ich ihm vorenthielt. Er bat, flehte, weinte und endlich drohte er. Er begann seine Stimme zu erheben – ich bat ihn es nicht zu tun; da sah er, dass er mich da fassen konnte — er drohte, dass er nun schreien und die Marsleute herbeirufen werde. Eine Zeit lang schüchterte mich das ein; aber jedes Zugeständnis hätte die Möglichkeit unseres Entrinnens ganz unberechenbar verringern müssen. Ich widerstand, obwohl keineswegs darüber beruhigt, dass er seine Drohung nicht ausführen werde. An diesem Tage wenigstens tat er es aber nicht. Er sprach mit allmählich erhöhter Stimme während des größten Teils des achten und des neunten Tages. Drohungen und Bitten vermischten sich mit einer wahren Sturzflut halbverrückter, aber immer überquellender Reue, dass sein Gottesdienst nur eitel Wortgepränge gewesen sei. Ich konnte nicht umhin, ihn zu bemitleiden. Dann schlief er ein wenig und dann begann er wieder mit erneuter Kraft, und zwar so laut, dass ich gezwungen war, ihn zurückzuhalten.
»Schweigen Sie!«, flehte ich. Er erhob sich auf seine Knie, denn er war bisher im Dunkeln neben dem Waschkessel gesessen.
»Ich habe schon zu lange geschwiegen«, sagte er in einem Ton, den man in der Grube hören musste. »Und jetzt muss ich Zeugnis ablegen. Wehe dieser ungetreuen Stadt! Wehe, wehe! Wehe, wehe! Den Bewohnern der Erde, durch die anderen Stimmen der Posaune —«
»Hören Sie auf!«, sagte ich, aufspringend, voll Angst, die Marsleute könnten uns hören. »Um Gottes willen —.«
»Nein«, schrie der Kurat, so laut er konnte. Er stand auf und breitete seine Arme aus. »Sprechen will ich! Das Wort des Herrn ist in mir.«
Mit drei Sätzen hatte er die Tür zur Küche erreicht.
»Ich muss mein Zeugnis ablegen. Ich gehe. Zu lange schon habe ich gezögert.«
Ich streckte meine Hand aus und tastete nach dem Hackmesser, das an der Wand hing. Wie ein Pfeil schoss ich dem Kuraten nach. Ich war ganz toll vor Angst. Ehe er in der Mitte der Küche war, hatte ich ihn eingeholt. Mit einem letzten Funken von Menschlichkeit drehte ich die Schneide um und schlug mit dem Rücken des Messers nach ihm. Er stürzte kopfüber hin und lag ausgestreckt am Boden. Ich stolperte über ihn und blieb atemlos stehen. Er lag ganz still da.
Plötzlich hörte ich draußen ein Geräusch, das Rieseln und Stürzen gleitenden Mörtels, und die dreieckige Öffnung in der Mauer verdunkelte sich. Ich blickte auf und sah, wie die untere Fläche einer Hebemaschine sich langsam am Loch vorbeischob. Eines ihrer ausgreifenden Glieder rollte sich im Schutt zusammen; nun erschien ein zweites Glied, das sich seinen Weg über die herabgestürzten Balken hin tastete. Ich starrte wie versteinert hin. Da sah ich durch eine Art Glasplatte am Ende der Maschine das Gesicht, wenn ich so sagen darf, und die großen dunklen Augen eines Marsmannes hereinspähen, und dann ringelte sich die lange, metallene Schlange eines Fühlers wie prüfend durch das Loch herein.
Im Bann dieses Anblicks wandte ich mich mit einiger Überwindung los, stolperte über den Kuraten und blieb an der Tür der Waschkammer stehen. Der Fühler war jetzt schon etwa zwei oder mehr Yard im Zimmer und fuhr züngelnd und schlängelnd in blitzschnellen Bewegungen hierhin und dorthin. Eine Zeit lang beobachtete ich, seltsam ungezogen, sein allmähliches, eigenartiges Näherkommen. Endlich zwang ich mich mit einem leisen, heiseren Schrei, in die Waschkammer zu laufen. Ich zitterte heftig; ich konnte mich kaum aufrecht halten. Ich schloss die Tür des Kohlenkellers auf und stand da in der Finsternis, starrte nach der schwach beleuchteten Tür, die in die Küche führte und lauschte. Hatte der Marsmann mich gesehen? Und was würde er jetzt tun?
Etwas bewegte sich dort sehr leise hin und her; jeden Augenblick tappte es gegen die Mauer, oder setzte seine Bewegungen mit einem schwachen, metallischen Klirren, ähnlich dem Geräusch eines Schlüsselbundes, fort. Dann wurde ein schwerer Körper — nur zu gut wusste ich, was für einer — über den Fußboden geschleift und zur Öffnung hinausgehoben. Unwiderstehlich angezogen, kroch ich zur Tür und spähte in die Küche. In dem von der Sonne hell beschienen Dreieck sah ich den Marsmann, wie er in der Hebemaschine, einem wahrhaften Briareus1 saß und den Kopf des Kuraten untersuchte. Ich zweifelte keinen Augenblick, dass er aus der Wunde, die mein Schlag jenem beigebracht hatte, auf meine Anwesenheit schließen würde.
Ich kroch zum Kohlenkeller zurück, schloss die Tür und begann, so gut ich konnte, und so leise, wie es mir bei der Dunkelheit möglich war, mich unter das Brennholz und die Kohlen