H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
sie keinen mehr ab, wenigstens nicht, bis der erste Zylinder kam.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte der Artillerist. Ich erklärte es ihm. Er dachte nach. »Mag sein, dass mit dem Geschütz etwas nicht ganz in Ordnung ist«, sagte er. »Aber, wenn es sich auch so verhält, so haben sie das schon längst wieder zurechtgekriegt. Und selbst, wenn es länger dauern sollte, an der Sache wird nichts geändert. Menschen und Ameisen, sage ich Ihnen. Da haben Sie die Ameisen, die bauen ihre Städte, leben ihr kleines Leben, führen Krieg, machen Revolutionen, bis der Mensch sie aus dem Weg räumen will; und dann gehen sie eben aus dem Weg. So geht es uns jetzt — uns Ameisen. Nur…«
»Ja?«, fragte ich.
»Wir sind essbare Ameisen.«
Wir sahen uns in die Augen.
»Und was werden sie mit uns anfangen?«, fragte ich.
»Darüber habe ich ja immer nachgedacht«, erwiderte er, »darüber habe ich immer nachgedacht. Nach Weybridge ging ich nach Süden — und dachte nach. Ich sah, was los war. Die meisten Menschen waren eifrig bemüht, sich aufzuregen und zu quietschen. Ich aber bin kein Freund vom Quietschen. Ich bin schon ein- oder zweimal dem Tod gegenübergestanden; ich bin kein Ziersoldat, und im besten und schlimmsten Fall, Tod ist eben Tod. Und der Mann, der beharrlich nachdenkt, kommt überall durch. Ich sah, wie jedermann nach Süden drängte. Da sagte ich mir: ›Hier wird man über kurz oder lang nichts mehr zu essen bekommen.‹ Und so machte ich stracks kehrt. Ich ging den Marsleuten nach, wie die Spatzen den Menschen nachgehen. Rings um uns herum« — er fuhr mit seiner Hand den Horizont entlang — »hungern sie in Haufen, reißen sie aus und treten aufeinander herum.«
Er sah mein Gesicht und hielt betreten inne.
»Ohne Zweifel sind Massen von Leuten, die Geld hatten, nach Frankreich gegangen«, sagte er. Er schien zu zögern, ob er sich entschuldigen solle, begegnete meinen Augen und fuhr fort: »Hier herum gibt es genug zu essen. Gepökelte Waren in den Läden; Wein, Schnaps, Mineralwasser; aber die Wasserbehälter und Röhren sind leer. Also, ich habe Ihnen gesagt, worüber ich nachdachte.« »Hier haben wir intelligente Geschöpfe«, sagte ich mir, »und es scheint, dass sie uns zu ihrer Nahrung brauchen. Zuerst werden sie uns zerschmettern — Schiffe, Maschinen, Waffen, Städte, jede Ordnung, jede Vereinigung. Alles das wird verschwinden. Hätten wir die Größe von Ameisen, dann könnten wir davonkommen. Aber wir haben sie nicht. Wir sind viel zu groß und zu plump. Das ist die erste Gewissheit. Was?«
Ich bejahte.
»So ist es; ich habe es ausgedacht. Also gut; was kommt dann? Zuerst werden wir gefangen, weil man uns nötig hat. Ein Marsmann braucht nur ein paar Meilen zu gehen, um einen fliehenden Haufen zu kriegen. Und ich habe einen gesehen, eines Tages draußen bei Wandsworth, der Häuser in Stücke schlug und dann in den Trümmern umherstöberte. Aber dabei wird es nicht bleiben. Sobald sie mit unsern Geschützen und Schiffen aufgeräumt, unsere Eisenbahnen zerschmettert haben, mit all den Dingen, die sie dort drüben tun, fertig geworden sind, dann werden sie anfangen, uns systematisch zu fangen, die Besten von uns auszusuchen und uns in Käfigen und ähnlichen Dingen aufzubewahren. Damit, verlassen Sie sich drauf, werden sie in kurzer Zeit beginnen. Mein Gott, sie haben ja noch gar nicht mit uns angefangen. Sehen Sie denn das nicht ein?«
»Noch nicht angefangen!«, rief ich.
»Noch nicht angefangen«, sagte er. »Alles, was bisher geschehen ist, ist geschehen, weil wir nicht vernünftig genug waren, still zu halten und sie mit Kanonen und ähnlichen Narrheiten geärgert haben. Weil wir unseren Kopf verloren haben und rudelweise dorthin stürzten, wo wir nicht um ein Haar mehr sicherer waren, als wo wir zuerst waren. Sie wollen uns ja nicht behelligen. Sie bringen einfach ihre Angelegenheiten in Ordnung — verfertigen alle die Dinge, die sie nicht mit sich bringen konnten, und bereiten nur alles für die Übersiedlung ihres Volkes vor. Es ist sehr leicht möglich, dass die Zylinder nur deshalb für einige Zeit aufgehört haben, aus Furcht, die zu treffen, die schon hier sind. Und statt blindlings umherzurasen und Dynamit zu sammeln, in der Hoffnung, sie in die Luft zu blasen, täten wir viel besser daran, uns aufzuraffen und uns nach dem neuen Stand der Dinge einzurichten. So lege ich mir’s zurecht. Es ist freilich nicht der Zustand, den der Mensch sich für seine Gattung wünscht, aber es ist der Zustand, auf den die Tatsachen hinweisen. Und es ist der Grundsatz, nach dem ich zu handeln gedenke. Städte, Völker, Gesinnung, Fortschritt — damit ist es vorbei. Das Spiel ist ausgespielt. Wir sind geschlagen.«
»Aber wenn es so ist, wozu sollen wir dann noch leben?«
Der Artillerist sah mich einen Augenblick an.
»Du lieber Himmel, Konzerte wird es freilich eine Million Jahre oder so ähnlich keine mehr geben; und Bilderausstellungen und kleine nette Mahlzeiten in Restaurants auch nicht. Wenn Sie es aufs Vergnügen abgesehen haben, dann glaube ich, ist das Spiel aus. Wenn Sie feine Manieren haben, oder sich entsetzen, wenn einer seine Birnen mit dem Messer isst oder nicht so spricht, wie’s in der Grammatik steht, dann geht’s freilich nicht. Solche Dinge werden Sie in Zukunft nicht mehr brauchen.«
»Sie meinen …«
»Ich meine, dass Männer wie ich fortleben sollen — der Zucht wegen. Ich sage Ihnen, ich bin fest entschlossen, weiterzuleben. Und, wenn mich nicht alles trügt, werden auch Sie zeigen müssen, was Sie wert sind, und zwar in kurzer Zeit. Wir lassen uns nicht ausrotten. Und ich habe nicht die Absicht, mich fangen zu lassen, noch gezähmt und gemästet und gezüchtet zu werden, wie ein fetter Ochse. Pfui! Denken Sie doch an diese braunen Kriecher!«
»Sie wollen doch nicht sagen —«.
»Ja, das will ich. Ich will weiterleben. Zu ihren Füßen. Ich habe mir schon den Plan gemacht; habe alles ausgedacht. Wir Menschen sind geschlagen. Wir wissen noch nicht genug. Wir haben noch tüchtig zu lernen, ehe die Reihe an uns kommt. Und wir haben noch zu leben und unabhängig zu sein, so lange wir lernen. Verstehen Sie? Das alles muss noch geschehen.«
Ich starrte ihn an, verblüfft und tief bewegt von der Entschlossenheit dieses Mannes.
»Großer Gott!«, rief ich. »Sie sind in der Tat ein Mann.« Und ganz unvermittelt ergriff ich seine Hand.
»Was?«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Ich habe mir’s fein ausgedacht, was?«
»Fahren Sie fort«, sagte ich.
»Gut also. Die sich nicht fangen lassen wollen, müssen sich fertig machen. Ich mache mich fertig. Passen Sie auf: nicht alle unter uns sind für die wilden Tiere gemacht; und darauf kommt es an. Ich hatte meine Zweifel. Sie sind dünn und schlank. Wissen Sie, ich wusste ja nicht, dass Sie es waren, noch dass Sie so lange begraben lagen. Aber alle diese Leute — diese Gattung