H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
ganz ruhig – vielleicht ein wenig entschlossener als gewöhnlich. Die Blicke, die er durch das Zimmer schweifen ließ, trafen auch das Bett. Auf dem Teppich davor gewahrte er eine Blutlache, das Bettuch selbst war zerrissen. Als er vorher das Zimmer betreten hatte, hatte er dies nicht bemerkt, weil er direkt zum Toilettentisch gegangen war. Auf der gegenüberliegenden Seite war das Bettzeug niedergedrückt, als ob jemand vor kurzem dort gesessen hätte.
Dann hatte er eine sonderbare Empfindung, als ob eine Stimme leise sagte: »Großer Gott! – Kemp!« Aber Dr. Kemp glaubte nicht an geheimnisvolle Stimmen.
Er starrte auf das zerwühlte Leintuch. War es wirklich eine Stimme gewesen? Wieder blickte er im Zimmer umher, aber, außer einem Blutfleck im Bett bemerkte er nichts Auffallendes weiter. Dann hörte er ganz deutlich eine Bewegung in der Nähe des Waschtisches. Alle Menschen, selbst hochgebildete, haben bisweilen abergläubische Regungen. Ein Gefühl wie Geisterfurcht überkam ihn. Er schloss die Tür des Zimmers, ging zum Nachttisch und stellte die Flaschen nieder. Plötzlich bemerkte er, zusammenfahrend, einen blutbefleckten Leinwandfetzen zwischen sich und dem Waschtisch mitten in der Luft schweben.
Bestürzt starrte er darauf hin. Es war ein leerer Verband – ein richtig geknüpfter, aber ganz leerer Verband. Er wollte einen Schritt vorwärts tun, um ihn zu ergreifen, aber eine Berührung hielt ihn zurück sowie eine Stimme, die dicht neben ihm sprach.
»Kemp!«, sagte die Stimme.
»Eh?«, fragte Kemp mit offenem Munde.
»Bleiben Sie ruhig«, ertönte die Stimme. »Ich bin ein unsichtbarer Mensch.«
Eine Zeit lang antwortete Kemp nicht, sondern fuhr fort, den Verband anzustarren. »Ein unsichtbarer Mensch?«, fragte er endlich langsam.
»Ich bin ein unsichtbarer Mensch«, wiederholte die Stimme.
Kemp fiel es ein, wie er noch am Morgen mit großem Eifer darauf bedacht gewesen war, die ganze Geschichte von einem unsichtbaren Menschen ins Lächerliche zu ziehen. In jenem Augenblick scheint er aber weder sehr erschrocken noch besonders überrascht gewesen zu sein. Das Bewusstsein des Wunderbaren kam erst später über ihn.
»Ich hielt alles für Lüge«, sagte er. Dabei wiederholte er ununterbrochen in seinem Geiste alle Gründe, aus denen er bei sich selbst das Gerücht als eine Ungeheuerlichkeit zurückgewiesen hatte. »Haben Sie sich einen Verband angelegt?«, fragte er.
»Ja«, erwiderte der Unsichtbare.
»Oh«, sagte Kemp. Dann ermannte er sich. »Aber das ist ja Unsinn. Ein Taschenspielerkunststück.« Er trat plötzlich vor, und seine Hand, die er in der Richtung des Verbandes ausstreckte, stieß auf unsichtbare Finger.
Er wich bei der Berührung zurück und wechselte die Farbe.
»Nehmen Sie sich zusammen, Kemp, um Gottes willen! Ich brauche dringend Hilfe. Bleiben Sie stehen!«
Die Hand umklammerte seinen Arm. Er schlug danach. »Kemp!«, rief die Stimme. »Kemp, nehmen Sie sich zusammen!«, und der Griff wurde fester.
Ein wahnsinniges Verlangen, sich zu befreien, durchzuckte Kemp. Die Hand des verbundenen Armes packte ihn an der Schulter; er wurde um den Leib gefasst und rückwärts auf das Bett geschleudert. Schon öffnete er den Mund und wollte um Hilfe rufen, als ihm der Zipfel des Leintuches in den Mund gestopft wurde. Der Unsichtbare hielt ihn mit eiserner Kraft nieder. Nur die Arme hatte er frei, und mit diesen stieß und schlug er herum, so gut er konnte.
»Wollen Sie vernünftig zuhören?«, fragte der Unsichtbare und hielt Kemp, trotz eines Rippenstoßes, den er von ihm erhielt, fest. »Beim Himmel, noch eine Minute und Sie bringen mich zur Raserei!«
»Liegen Sie still, Sie Narr!«, brüllte der Unsichtbare Kemp ins Ohr.
Kemp wehrte sich noch einen Augenblick, dann blieb er still liegen.
»Wenn Sie schreien, zerschlage ich Ihnen das Gesicht«, sagte der Unsichtbare, den Knebel entfernend. »Ich bin ein unsichtbarer Mensch. Das ist weder Tollheit noch Zauberei. Ich bin wirklich ein unsichtbarer Mensch. Und ich brauche Ihre Hilfe. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen wehe zu tun, wenn Sie sich aber wie ein Bauerntölpel gebärden, kann ich mir nicht helfen. Erinnern Sie sich meiner nicht, Kemp? Griffin, Ihr Kollege an der Universität.«
»Lassen Sie mich aufstehen«, bat Kemp. »Ich werde bleiben, wo ich bin. Und lassen Sie mich eine Minute lang ruhig denken.«
Er setzte sich auf und befühlte seinen Hals.
»Ich bin Griffin, von der Universität, und ich habe mich unsichtbar gemacht. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch – den Sie selbst gekannt haben – der sich unsichtbar gemacht hat.«
»Griffin?«, fragte Kemp.
»Griffin«, antwortete die Stimme. »Ein jüngerer Kollege von Ihnen, fast ein Albino, sechs Fuß hoch, breit in den Schultern – mit einem rosigen und weißen Teint und roten Augen – der den Preis für Chemie gewann.«
»Ich bin ganz verwirrt«, sagte Kemp. »Mein Kopf geht auseinander. Was hat das alles mit Griffin zu tun?«
»Ich bin Griffin.«
Kemp dachte nach. »Es ist schrecklich«, sagte er. »Aber welche Teufelei kann einen Menschen unsichtbar machen?«
»Es ist keine Teufelei. Es ist ein ganz einfacher und leichtverständlicher chemischer Prozess – –«
»Es ist entsetzlich!«, sagte Kemp. »Wie war es nur möglich – –?«
»Es ist wirklich entsetzlich. Aber ich bin verwundet, habe Schmerzen und bin müde. – Großer Gott! Kemp, Sie sind ein Mann. Fassen Sie sich. Geben Sie mir etwas zu essen und zu trinken und lassen Sie mich hier sitzen.«
Kemp blickte starr auf den Verband, der sich durch das Zimmer bewegte, und sah einen Korbsessel von dem anderen Ende des Zimmers an sein Bett kommen und dort stehenbleiben. Der Sitz krachte und senkte sich um einen Viertelzoll. Kemp rieb sich die Augen und befühlte seinen Hals abermals. »Das übertrifft Geisterspuk«, sagte er und lachte albern vor sich hin.
»So ist’s schon besser. Dem Himmel sei Dank, Sie kommen zur Vernunft.«
»Oder ich werde verrückt«, erwiderte Kemp und rieb sich die Augen.
»Geben Sie mir etwas Whisky, ich bin halbtot.«
»Den Eindruck hatte ich nicht. Wo sind Sie? Werde ich nicht in Sie hineinrennen, wenn ich aufstehe? Ja! Schon gut. Whisky. – Da ist ein Glas. Wohin soll ich es Ihnen geben?«
Der Stuhl krachte und Kemp fühlte, wie das Glas seiner Hand entzogen