H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Und zwar aus ganz demselben Grunde!«
»Ja«, sagte Kemp, »das ist klar. Heutzutage weiß das jeder Schuljunge.«
»Und noch eine andere Tatsache muss jeder Schuljunge kennen. Wenn eine Glasscheibe zerbrochen und zu Pulver zerrieben wird, wird sie viel leichter sichtbar; schließlich wird ein undurchsichtiges, weißes Pulver daraus. Dies entsteht durch die Pulverisierung, wodurch die Glasflächen, auf welchen das Licht gebrochen oder reflektiert wird, vervielfältigt werden. Die Glasscheibe hat nur zwei Flächen, bei dem Pulver wird das Licht von jedem Glaskörnchen reflektiert oder gebrochen, und nur ein sehr kleiner Teil dringt widerstandslos durch das Pulver durch. Wenn aber das weiße, pulverisierte Glas in Wasser getaucht wird, verschwindet es sofort. Das pulverisierte Glas und das Wasser haben so ziemlich denselben Brechungswinkel, das heißt das Licht erleidet eine sehr kleine Brechung oder Reflexion, wenn es von dem einen zu dem anderen übergeht.
Man macht das Glas unsichtbar, indem man es in eine Flüssigkeit taucht, die ziemlich den gleichen Brechungswinkel hat. Also: etwas Durchsichtiges wird undurchsichtig, indem man es in ein Medium von demselben Brechungswinkel bringt. Und wenn Sie nur eine Sekunde darüber nachdenken wollen, so werden Sie einsehen, dass der Glasstaub in der Luft unsichtbar gemacht werden könnte, wenn man imstande wäre, seinen Brechungswinkel demjenigen der Luft gleich zu machen.«
»Ja, ja«, versetzte Kemp. »Aber der Mensch ist doch kein pulverisiertes Glas.«
»Nein«, erwiderte Griffin. »Er ist durchsichtiger!«
»Unsinn!«
»Und das sagt ein Mediziner! Wie leicht man vergisst! Haben Sie in diesen zehn Jahren alle Ihre Kenntnisse aus der Physik vergessen? Denken Sie nur an all die Dinge, welche durchsichtig sind und nicht so erscheinen! Papier, zum Beispiel, besteht aus transparenten Fasern und ist nur aus demselben Grunde weiß und undurchsichtig, wie der Glasstaub weiß und undurchsichtig ist. Durchtränken Sie weißes Papier mit Öl, füllen Sie die Zwischenräume zwischen den einzelnen Teilchen mit Öl aus, sodass außer auf der Oberfläche keine Brechung oder Reflexion mehr besteht, und es wird durchsichtig wie Glas. Und nicht allein Papier, auch Leinenfasern, Wollfasern, Holzfasern und Knochen, Kemp; Fleisch, Haar, Nägel und Nerven, Kemp; kurz, alle Teile des menschlichen Körpers bis auf das Rot im Blute und den dunkeln Farbstoff des Haares, bestehen aus einem durchsichtigen, farblosen Gewebe – so wenig genügt, uns einander sichtbar zu machen. Das Faserngewebe eines lebendigen Wesens ist zum größten Teile ebenso durchsichtig als Wasser.«
»Natürlich, selbstredend!«, rief Kemp. »Ich selbst dachte noch vergangene Nacht an die Larvae im Meere und die Gallertfische!«
»Jetzt sind Sie auf dem Punkte, wo ich Sie haben wollte! Und all dies wusste ich und trug es mit mir herum, ein Jahr, nachdem ich London verlassen hatte – jetzt vor sechs Jahren. Aber ich behielt es für mich. Ich hatte mit fürchterlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Hobbenne, mein Professor, war ein wissenschaftlicher Räuber, ein Ideendieb, ein Mensch, der Ideen stahl und unaufhörlich herumspionierte! Und Sie kennen die gewissen Schleichwege in der gelehrten Welt. Ich wollte einfach nichts veröffentlichen, weil ich ihm an meinem Erfolge keinen Anteil gönnte. Ich arbeitete rastlos weiter. Immer näher kam ich meinem Ziele, meine Theorie durch ein Experiment zu erproben – in Wirklichkeit zu verwandeln. Ich sprach zu keiner lebenden Seele davon, weil ich die Absicht hatte, mein Werk wie einen Blitz in die Welt zu schleudern und mit einem Schlage berühmt zu werden. Um verschiedene Lücken auszufüllen, wandte ich mich der Lehre von den Pigmenten zu und plötzlich – nicht nach langem Forschen, sondern rein zufällig – machte ich eine Entdeckung.«
»Ja?«
»Sie kennen den roten Farbstoff im Blute – er kann weiß – farblos – gemacht werden und doch alle seine jetzigen Funktionen beibehalten!«
Kemp stieß einen Ruf ungläubigen Erstaunens aus.
Der Unsichtbare erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. »Sie sind mit Recht verwundert. Ich erinnere mich jener Nacht. Es war spät am Abend – tagsüber musste man sich ja mit trägen, dummen Studenten abquälen – und ich arbeitete manchmal bis zur Morgendämmerung. Der Gedanke kam mir plötzlich, glänzend und vollkommen. Ich war allein. Das Laboratorium war still und leer. Das Licht brannte mit heller und ruhiger Flamme … Man könnte ein Tier – ein Zellengewebe – durchsichtig machen! Man könnte es unsichtbar machen! Ganz bis auf die Pigmente. ›Ich könnte unsichtbar werden‹, sagte ich mir und begriff plötzlich den ungeheuren Sinn des Wortes. Es war überwältigend. Ich verließ die Filtriermaschine, an der ich beschäftigt war, und blickte durch das große Fenster zu den Sternen empor. ›Ich könnte unsichtbar werden‹, wiederholte ich mir.
Etwas Derartiges ausführen, hieße Zauberei noch übertreffen. Und ich hatte, von keinen Zweifeln gequält, eine glänzende Vision alles dessen, was Unsichtbarkeit für einen Menschen bedeuten würde. Geheimnis, Macht, Freiheit! Schattenseiten sah ich keine. Denken Sie sich nur! Ich, ein armer, geplagter, obskurer Demonstrator an einer Provinzuniversität, konnte plötzlich – dies werden. Ich frage Sie, Kemp, wenn Sie … Jeder, sage ich Ihnen, hätte sich auf dieses Studium geworfen. Und ich arbeitete drei Jahre lang, und so oft ich einen schwierigen Berg erklommen hatte, türmte sich auf dessen Gipfel ein anderer vor mir auf. Die endlosen Einzelheiten! Und die Verzweiflung! Und der Professor, der immer um mich herumspionierte. ›Wann werden Sie Ihr Werk veröffentlichen?‹ lautete seine ewige Frage. Drei Jahre dauerte es. – –
Und nach drei Jahren geheimer Arbeit und Mühe fand ich, dass es unmöglich sei, es zu vollenden – unmöglich!«
»Warum?«
»Geld«, sagte der Unsichtbare und starrte wieder zum Fenster hinaus.
Plötzlich drehte er sich um: »Ich beraubte den alten Mann – meinen Vater.
Das Geld war nicht sein, und er erschoss sich.«
20. Kapitel – Im Hause in Great Portland Street
Für einen Augenblick blieb Kemp still sitzen und blickte starr auf den Rücken der kopflosen Gestalt am Fenster. Dann zuckte er unter einem plötzlichen Gedanken zusammen, erhob sich, nahm den Unsichtbaren beim Arme und führte ihn von dem Fenster weg.
»Sie sind müde«, sagte er, »und während ich sitze, gehen Sie herum. Nehmen Sie doch meinen Stuhl.«
Er setzte sich zwischen Griffin und das nächste Fenster.
Griffin