H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Ich ging zu dem Begräbnisse meines Vaters. Doch hatte ich für nichts auf der Welt Gedanken, als für meine Untersuchungen, und rührte keinen Finger, um seinen guten Namen zu retten. Ich erinnere mich an das Leichenbegängnis, an den billigen Sarg, die kurze Trauerzeremonie, den frostigen Hügel und den Geistlichen, seinen alten Studienkollegen, der den Gottesdienst abhielt.
Ich erinnere mich, wie ich in unser verödetes Heim zurückkehrte, in dem Orte, der einst ein Dorf gewesen war, und welchen habsüchtige Bauspekulanten jetzt in eine hässliche Stadt verwandelt haben. Ich sehe mich noch selbst, eine hagere, schwarze Gestalt, die einsam auf einem feuchtglänzenden, schlüpfrigen Seitenpfade dem Dorf zuschritt, geistig getrennt von allem, was mir in der Jugend die Heimat lieb und teuer gemacht hatte …
Als ich in die Hauptstraße einbog, wurde ich noch einmal an mein altes Leben gemahnt. Ich begegnete dem Mädchen, das ich vor zehn Jahren gekannt hatte. Unsere Augen trafen sich …
Etwas zwang mich, mich umzudrehen und sie anzusprechen. Sie war eine sehr gewöhnliche Person.
Wie ein Traum war dieser Besuch in meinem Heimatsorte. Damals fühlte ich nicht, dass ich vereinsamt war, dass ich die Welt für eine Wüste hingegeben hatte. Erst als ich in mein Zimmer trat, hatte ich die Empfindung, wieder der Wirklichkeit anzugehören. Da waren die Dinge, welche ich kannte und liebte. Da standen meine Apparate und warteten bloß darauf, von mir zu der Endprobe verwendet zu werden. Und bis auf die Ebnung von Kleinigkeiten gab es kaum mehr ein ernstes Hindernis.
Ich will Ihnen früher oder später den ganzen komplizierten Prozess erklären. Jetzt brauchen wir nicht näher darauf einzugehen. Mit Ausnahme einiger Lücken, die ich absichtlich nur meinem Gedächtnisse eingeprägt habe, ist er in Chiffreschrift in den Büchern, welche jener Landstreicher verborgen hat, niedergeschrieben. Wir müssen ihn einfangen. Wir müssen die Bücher wieder haben. Die eigentliche Aufgabe bestand also darin, den durchsichtigen Gegenstand, dessen Brechungswinkel herabgesetzt werden sollte, bei einer bestimmten Schwingung des Äthers zwischen zwei elektrische Zentren zu stellen, wovon ich später ausführlicher sprechen werde. Nein – keine Röntgenstrahlen; ich glaube auch nicht, dass meine Strahlen schon beschrieben worden sind, und doch sind sie leicht sichtbar. In erster Linie benötigte ich zweier kleiner Dynamomaschinen, die ich mit einem kleinen Gasmotor antrieb. Zu meinem ersten Experimente nahm ich ein Stück weißen Wollstoffes. Es war das seltsamste Ding der Welt, den Stoff beim Aufblitzen der elektrischen Funken weich und weiß vor sich zu sehen und dann zu beobachten, wie er gleich einer Rauchsäule langsam verging und endlich verschwand.
Ich konnte nicht glauben, dass es mir gelungen war. Ich streckte meine Hand ins Leere aus und da fand ich das Ding ebenso kompakt und fest wie früher. Ein unheimliches Gefühl beschlich mich, als ich es in der Hand hielt und ich ließ es fallen. Dann hatte ich viele Mühe, es wieder zu finden.
Und dann kam ein merkwürdiger Versuch. Hinter mir hörte ich miauen, und als ich mich umwendete, erblickte ich eine weiße, magere, sehr schmutzige Katze, die außerhalb des Fensters auf dem Deckel der Regenwassertonne saß. Da kam mir eine Idee. ›Du kommst mir eben recht‹, sagte ich, öffnete das Fenster und lockte die Katze in das Zimmer. Sie kam schnurrend herein – das arme Tier war halb verhungert und ich gab ihr etwas Milch von meinen Speisevorräten, die ich in einem Schranke in der Zimmerecke verwahrte. Nachdem sie getrunken hatte, ging sie suchend im Zimmer umher, augenscheinlich in der Absicht, sich daselbst häuslich einzurichten. Der unsichtbare Wollstoff verwirrte sie ein wenig. Sie hätten nur sehen sollen, wie sie fauchte und darauf los fuhr! Ich machte ihr auf einem Kissen ein Lager zurecht.«
»Und Sie verwandelten sie?«
»Ich verwandelte sie. Aber einer Katze Medikamente einzugeben, ist kein Spaß, Kemp! Und der Versuch misslang.«
»Misslang?«
»Aus zwei Gründen. Erstens wegen der Krallen und zweitens wegen des Farbstoffes rückwärts im Auge der Katzen. Wie heißt er doch?«
»Tapetum.«
»Ganz richtig, Tapetum. Er ging nicht weg. Nachdem ich der Katze das zum Bleichen des Blutes erforderliche Mittel eingegeben und gewisse andere Veränderungen an ihr vorgenommen hatte, flößte ich ihr Opium ein und legte sie und das Kissen, auf dem sie schlief, auf den Apparat. Und nachdem alles übrige verschwunden war, blieben zwei kleine, glänzende Punkte in den Augen sichtbar.«
»Seltsam.«
»Ich kann es nicht erklären. Sie war natürlich gebunden und auf ihrem Lager festgemacht, sodass sie mir nicht entwischen konnte. Aber sie war noch halb im Nebel sichtbar, als sie wieder zu sich kam und kläglich zu miauen begann. Da klopfte es an der Türe. Es war eine alte Frau aus dem unteren Stockwerk, die mich im Verdacht hatte, Vivisektionen vorzunehmen – eine dem Trunke ergebene alte Person, die auf der ganzen Welt für niemand Liebe empfand als für ihre Katze. Ich gab dem Tiere etwas Chloroform zu riechen und zeigte mich an der Türe. ›Ist hier nicht eine Katze?‹ fragte sie. ›Meine Katze?‹ ›Hier nicht‹, antwortete ich sehr höflich. Sie war nicht ganz überzeugt und versuchte, an mir vorbei ins Zimmer zu blicken – merkwürdig genug mag es ihr erschienen sein, mit seinen kahlen Wänden, den unverhüllten Fenstern, dem Feldbette, dem leise arbeitenden Gasmotor, den fahlen Blitzen an den Polen der Dynamomaschinen und dem schwachen Chloroformgeruch in der Luft. Endlich musste sie sich zufrieden geben und fortgehen.«
»Wie lange Zeit nahm es in Anspruch?«, fragte Kemp.
»Drei oder vier Stunden – bei der Katze. Am längsten widerstanden die Knochen, die Sehnen, das Fett und die Spitzen der farbigen Haare. Und wie ich schon sagte, der rückwärtige Teil des Auges, ein zäher, regenbogenfarbiger Stoff, wollte überhaupt nicht verschwinden.
Draußen war es Nacht geworden, lange bevor die Sache vorüber war und von dem Tier war nichts mehr zu sehen als undeutlich die Augen und die Krallen. Ich brachte den Gasmotor zum Stehen, tastete nach dem Tiere, das noch immer besinnungslos lag und streichelte es. Dann löste ich die Schnüre, die es festhielten, ließ es dann, da es ganz erschöpft war, auf dem unsichtbaren Kissen weiterschlafen und ging zu Bett. Doch konnte ich lange keinen Schlaf finden. Ich lag wach und wälzte dummes, sinnloses Zeug in meinem Kopf herum, ging meinen Versuch in Gedanken wieder und wieder durch, und dann träumte ich, dass alles um mich her, sogar der Erdboden, auf dem ich stand, unsichtbar wurde. Gegen zwei Uhr früh begann die Katze zu miauen. Ich versuchte sie zum Schweigen zu bringen, indem ich mit ihr sprach,