H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
ich mich an ein Auslagefenster und traf Anstalten, dem beginnenden Auflauf auszuweichen. Einen Augenblick später hätte mich die Menge eingeschlossen und ich wäre unfehlbar entdeckt worden. Ich stieß einen Fleischerburschen, der sich glücklicherweise nicht umdrehte, um das Nichts, welches ihn so unsanft berührt hatte, zu suchen, beiseite und flüchtete hinter den Wagen des Kutschers. Ich weiß nicht, wie die Sache verlief. Eilig kreuzte ich die Straße, und in der Angst vor Entdeckung des Weges kaum achtend, gelangte ich in die belebte Oxford Street.
Ich suchte mit dem Menschenstrom vorwärts zu kommen, aber das Gedränge war zu dicht für mich, und binnen kurzem waren die Fersen meiner Füße von den Leuten wund gestoßen. Ich trat also auf die Fahrstraße hinaus, deren unebenes Pflaster für meine Füße sehr schmerzhaft war. Da traf mich die Deichsel eines vorüberfahrenden Mietwagens heftig am Schulterblatt und erinnerte mich daran, dass ich schon früher nicht unerheblich verwundet worden war. Ein glücklicher Gedanke rettete mich vor weiteren Unfällen. Ich wich dem Wagen schnell aus, entging durch eine rasche Bewegung einem Zusammenstoß mit einem Manne, der eben die Straße überschritt und befand mich nun hinter dem Wagen, dessen Spuren ich unmittelbar folgte, sehr verblüfft über die Wendung, die mein Abenteuer genommen hatte. Ich zitterte nicht nur vor Aufregung, sondern auch vor Kälte. Es war ein heller Januartag; die dünne Kotschicht, die den Boden bedeckte, war nahezu gefroren. So töricht es jetzt auch erscheinen mag, ich hatte nicht bedacht, dass ich sichtbar oder unsichtbar, doch dem Wetter und allen seinen Folgen ausgesetzt blieb.
Da kam mir eine glänzende Idee. Ich lief vor und stieg in den Wagen. Und so fuhr ich, vor Kälte zitternd, mit den ersten Anfängen einer starken Erkältung und den immer schmerzhafter werdenden Verletzungen auf dem Rücken langsam die Oxford Street entlang. Meine Stimmung war von der, in welcher ich vor zehn Minuten meine Wanderung begonnen hatte, himmelweit verschieden. Wenn Unsichtbarkeit dies bedeutete! Nur eines einzigen Gedankens war ich jetzt fähig, wie ich mich aus der Klemme, in der ich mich befand, herausarbeiten könnte?
Wir fuhren langsam weiter, als plötzlich eine Frau, die sechs oder sieben gelbgebundene Bücher trug, den Wagen anrief. Ich sprang gerade zu rechter Zeit heraus, um nicht von ihr entdeckt zu werden. Im Sprunge streifte ich einen Karren, der eben vorüberfuhr. Ich ging die Straße nach Bloomsbury entlang, in der Absicht, mich hinter dem Museum nach Norden zu wenden, umso in ein ruhigeres Viertel zu gelangen. Mir war jetzt grausam kalt, und die Seltsamkeit meiner Lage machte mich so niedergeschlagen, dass ich während des Laufens leise wimmerte. An der Westecke des Platzes rannte ein kleiner, weißer Hund aus dem Gebäude der Pharmazeutischen Gesellschaft heraus und begann mit gesenkter Schnauze mir nachzuspüren.
Ich war mir früher niemals klar darüber geworden, aber der Geruchsinn ist für den Hund das, was das Auge für einen sehenden Menschen ist. Hunde bemerken durch ihren Geruchsinn einen Menschen, welcher sich bewegt, so wie Menschen seine Bewegungen mit den Augen verfolgen können. Das Tier begann zu bellen und zu springen und gab mir nur zu deutlich zu erkennen, dass es mich bemerkt hatte. Ich kreuzte Great Russel Street, blickte während des Gehens über die Schulter zurück und ging Montague Street ein Stück hinauf, bevor ich entdeckte, in welch misslicher Lage ich mich befand.
Denn plötzlich vernahm ich die Klänge einer Musikkapelle, und als ich die Straße hinaufblickte, sah ich eine große Anzahl Menschen aus Russel Square herauskommen. Sie trugen rote Jerseyjacken und das Banner der Heilsarmee schwebte ihnen voraus. Eine solche Menge zu durchdringen, konnte ich nicht hoffen; und da ich Furcht davor hatte, mich noch weiter von meiner Wohnung zu entfernen, eilte ich, der Eingebung des Augenblicks folgend, die weißen Stufen eines Hauses, welches dem Museum gegenüberlag, hinan, um dort zu warten, bis das Gedränge vorüber war. Glücklicherweise blieb der Hund bei den Klängen der Musik stehen, zögerte, kehrte dann um und lief nach Hause zurück.
Der Zug kam heran, die Teilnehmer brüllten mit unbewusster Ironie irgendeine Hymne, und es schien mir eine endlose Zeit, bevor die Flut sich an mir vorübergewälzt hatte. ›Dum, dum, dum‹ ging die Trommel, und für den Augenblick bemerkte ich zwei Straßenjungen nicht, die vor den Stufen neben mir stehenblieben. ›Schau her‹ sagte der eine. ›Auf was soll ich schauen?‹ fragte der andere. ›Diese Fußtapfen hier – von einem Barfüßigen.‹
Ich blickte hinab und sah, dass die beiden Jungen stehengeblieben waren, um auf die schmutzigen Fußspuren zu gaffen, welche ich auf den frisch geweißten Stufen zurückgelassen hatte. Die Vorbeigehenden stießen und drängten sie aus dem Wege, aber ihre verfluchte Neugierde war einmal erregt worden. ›Da ist ein barfüßiger Mensch die Stufen hinaufgegangen, oder ich verstehe gar nichts‹ sagte der eine. ›Und er ist nicht wieder heruntergegangen. Und sein Fuß hat geblutet.‹
Das größte Gedränge war schon vorüber. ›Sieh her, Ted‹, sagte der jüngere der beiden in dem Ton höchster Überraschung und deutete gerade auf meine Füße. Ich blickte nieder und sah, dass sie durch den sie bedeckenden Kot in ihren Umrissen sichtbar geworden waren. Vor Schreck war ich wie gelähmt.
›Das ist doch sonderbar!‹ sagte der ältere. ›Höchst sonderbar. Wie das Gespenst eines Fußes, nicht wahr?‹ Er zögerte und trat dann mit ausgestreckter Hand vor. Ein Mann blieb stehen, um zu sehen, was er fangen wollte; bald darauf ein Mädchen. In einem Augenblick würde er mich berührt haben. Da sah ich, was ich zu tun hatte. Ich machte einen Schritt, der Bursche fuhr mit einem Schrei zurück, und mit einer schnellen Bewegung schwang ich mich über die Zwischenmauer in die Toreinfahrt des nächsten Hauses. Aber der kleinere Junge war klug genug, die Bewegung zu verfolgen, und noch bevor ich die Stufen ganz hinabgestiegen war und die Straße erreicht hatte, hatte er sich von seiner augenblicklichen Bestürzung erholt und rief laut, dass die Füße hinter der Mauer verschwunden seien.
Sie eilten hin und verfolgten meine frischen Fußspuren über die Treppe bis auf die Straße hinunter.
›Was gibt es?‹ fragte jemand.
›Füße! Sehen Sie dort hin! Rennende Füße!‹
Alle Leute auf der Straße, meine drei Verfolger ausgenommen, zogen hinter der Heilsarmee her, und dieser Menschenstrom hinderte nicht nur mich, sondern auch sie. Man vernahm verwunderte Ausrufe und Fragen. Auf die Gefahr hin, einen jungen Menschen umzurennen, drang ich durch das Gewühl und lief im nächsten Augenblick, so schnell ich konnte, gegen Russel Square zu, während fünf oder sechs erstaunte Menschen meinen Fußspuren folgten. Ich hatte keine Zeit, ihnen die Sache zu erklären, sonst wäre die ganze