H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
fantastischen Ereignisse der letzten Tage. Ich sah den hässlichen Kerl, meinen Hauswirt, in seinem Zimmer fluchen; ich sah seine beiden Söhne und das faltige Gesicht der Alten, die nach ihrer Katze fragte. Dann stand ich wieder auf dem zugigen Hügel und hörte den alten Geistlichen an meines Vaters offenem Grabe murmeln: ›Erde zur Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.‹
›Auch du‹, sagte eine Stimme, und plötzlich wurde ich gegen das Grab gedrängt. Ich wehrte mich, schrie, rief die Trauergäste um Hilfe an, aber diese folgten mit unerschütterlicher Aufmerksamkeit dem Gottesdienst. Auch der alte Geistliche wich und wankte nicht. Ich entdeckte, dass ich unsichtbar und unhörbar war und überirdische Mächte ihre Hand auf mich gelegt hatten. Umsonst widerstrebte ich, ich wurde über den Rand gedrängt, der Sarg klang hohl, als ich auf ihn fiel, und eine Schaufel Erde nach der anderen wurde mir nachgeworfen. Niemand achtete meiner, niemand gewahrte mich. Ich machte eine verzweifelte Bewegung des Widerstandes und erwachte.
Die bleiche Londoner Dämmerung war angebrochen, das Haus war von einem kalten, grauen Licht erfüllt, das sich durch die Fensterläden hindurchstahl. Ich richtete mich auf und eine Zeit lang konnte ich mich nicht besinnen, wie ich in diesen weiten Raum mit den Zahltischen, den aufgestapelten Waren und den Haufen von Kissen hineingeraten war. Dann, als mein Erinnerungsvermögen zurückkehrte, hörte ich Stimmen im Gespräch.
Weit von mir sah ich in dem helleren Licht einer Abteilung, wo die Vorhänge schon zurückgezogen waren, zwei Männer, die ihre Schritte nach meinem Zufluchtsort lenkten. Ich sprang auf die Füße und blickte mich nach einem Versteck um; schon aber hatte sie das Geräusch meiner Bewegung aufmerksam gemacht. Ich vermute, dass sie nur eine Gestalt sahen, die sich geräuschlos entfernte. ›Wer ist da?‹ rief der eine, und ›Halt!‹ schrie der andere. Ich flog um eine Ecke und kam geradeswegs – eine Gestalt ohne Gesicht, bedenken Sie das! – auf einen schlanken, fünfzehnjährigen Burschen zu. Er schrie gellend auf, ich warf ihn zu Boden, eilte an ihm vorbei, bog um eine andere Ecke und warf mich, einer glücklichen Eingebung folgend, hinter einem Ladentisch flach nieder. Im nächsten Augenblick kamen eilige Schritte an mir vorbei und ich hörte Stimmen rufen: ›Alle zu den Türen!‹
Während ich am Boden lag, verließ mich die Überlegung vollständig. So seltsam es scheinen mag, in jenem Augenblick fiel mir nicht ein, meine Kleider auszuziehen, was das klügste gewesen wäre. Wahrscheinlich hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, in denselben zu entfliehen, und diese Idee beherrschte mich. Und dann ertönte ein Schrei unmittelbar vor mir: ›Hier ist er!‹
Ich sprang auf, ergriff einen Stuhl vom Ladentisch, wirbelte ihn durch die Luft und ließ ihn schwer auf den Kerl niederfallen, der gerufen hatte. Als ich um die Ecke biegen wollte, traf ich auf einen anderen, schlug auch ihn nieder und eilte die Treppe hinauf. Der Bursche eilte mir nach, rief laut ›Achtung!‹ und stieg dicht hinter mir die Treppe hinauf. Da bemerkte ich auf einem Gestell einen Haufen hellfarbiger Töpfe, ergriff einen derselben, wandte mich auf der letzten Stufe um und ließ ihn schmetternd auf seinen dummen Schädel niederfallen. Die ganze Reihe Töpfe polterte herunter und ich hörte von allen Seiten verworrenes Schreien und eilende Schritte. In tollem Lauf rannte ich nach dem Büfettzimmer; dort war ein weißgekleideter Mann, vermutlich ein Koch, der die Jagd von neuem begann. Ich machte eine letzte, verzweifelte Wendung und fand mich zwischen Lampen und Eisenwaren. Ich floh hinter den Ladentisch, erwartete dort meinen Koch, und als dieser an der Spitze der Verfolger in der Tür erschien, warf ich eine Lampe auf ihn. Er stürzte zu Boden und ich kroch wieder hinter den Ladentisch und begann, so schnell ich konnte, mich meiner Kleider zu entledigen. Rock, Weste, Beinkleider, Schuhe gingen leicht, aber ein Schafwollleibchen sitzt fester. Ich hörte wieder Menschen kommen, mein Koch lag regungslos auf der anderen Seite des Tisches und ich musste ein neues Versteck suchen.
›Hierher, Schutzmann!‹ hörte ich jemand rufen. Ich fand mich wieder in meinem Bettwarenlager, an das sich eine unendliche Flucht von Abteilungen mit Kleidern anschloss. In diese stürzte ich hinein, wurde mein letztes Kleidungsstück nach verzweifeltem Zerren endlich los und stand wieder als ein freier Mann, aber keuchend und erschöpft, vor dem Schutzmann und den drei Verkäufern, welche eben um die Ecke bogen. Sie stürzten sich auf meine Jacke und packten meine Beinkleider. ›Er wirft seinen Raub weg‹, sagte einer der jungen Leute. ›Er muss irgendwo hier sein!‹
Aber sie fanden mich doch nicht.
Ich beobachtete die Jagd noch einige Zeit und verfluchte mein Missgeschick, durch welches ich die Kleider wieder verloren hatte. Dann ging ich in den Büfettraum, trank dort ein wenig Milch, setzte mich ans Feuer und überdachte meine Lage.
Ein kleines Weilchen später kamen zwei Leute herein und begannen die Ereignisse sehr aufgeregt zu besprechen. Ich hörte eine übertriebene Aufzählung aller meiner Missetaten und alle möglichen Vermutungen über meine Person. Dann fing ich wieder an, Pläne zu schmieden. Jetzt, da das Haus alarmiert war, wäre es unendlich schwierig gewesen, irgendetwas daraus zu entwenden. Ich ging in den Packraum hinab, um zu sehen, ob es möglich wäre, ein Paket zu packen und an mich zu adressieren, aber ich verstand die Art des Versandes nicht. Gegen elf Uhr begann es zu tauen, und da das Wetter schöner und etwas wärmer als am vorhergehenden Tage war, gab ich das Warenhaus als hoffnungslos auf und ging wieder auf die Straße hinaus, verzweifelt über meinen Misserfolg und ganz und gar im Ungewissen, was ich nun beginnen sollte.«
23. Kapitel – In Drury Lane
Sie werden jetzt«, fuhr der Unsichtbare fort, »alle Nachteile meiner Lage begreifen. Ich hatte kein Obdach, kein Gewand – und Kleider anlegen, hieß so viel, als mich aller meiner Vorteile zu begeben, und etwas Seltsames und Fürchterliches aus mir zu machen.«
»Daran hatte ich gar nicht gedacht«, sagte Kemp.
»Auch ich nicht. Und der Schnee hatte mir auch andere Gefahren gezeigt. Ich konnte im Schnee nicht umhergehen; er hätte sich auf mir festgesetzt und mich verraten. Auch der Regen hätte mich als den wäßrigen Umriss eines Menschen – eine Art Seifenblase – sichtbar gemacht. Überdies sammelte sich – wenn ich in London umherging – Schmutz an meinen Knöcheln, Staub auf meiner Haut. Ich wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis ich auch infolge dieses Umstandes sichtbar werden würde. Aber ich wusste recht wohl, dass es nicht gar zu lange währen könnte.«
»Keinesfalls lange in London.«
»Ich ging durch verschiedene Hintergässchen gegen die Great Portland Street zu und war bald am Ende der Straße, in der ich gewohnt hatte,