H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
ihn nieder.«
»Was?«, rief Kemp.
»Ja, ich schlug ihn nieder, während er die Treppe hinabging. Von rückwärts, mit einem Stuhle, der im Flur stand. Er fiel die Treppe hinunter wie ein Sack.«
»Aber hören Sie! Die allgemeinen Gesetze der Menschlichkeit – –«
»Sind sehr gut und wohltätig für gewöhnliche Menschen. Aber die Sache war, Kemp, dass ich aus dem Hause musste, ohne dass er mich bemerkte, und zwar in einer Verkleidung. Einen anderen Ausweg gab es nicht. Und dann knebelte ich ihn mit einer Louis-Quartorze-Weste und band ihn in ein Betttuch ein!«
»In ein Betttuch!«
»Machte eine Art Bündel aus ihm. Es war eine ziemlich gute Idee; denn so brachte ich den Esel zum Schweigen und machte es ihm verteufelt schwer, wieder herauszukommen. Mein lieber Kemp, es nützt nichts, dass Sie dasitzen und mich anstarren, als ob ich einen Mord begangen hätte. Er hatte einen Revolver. Wenn er mich einmal gesehen hätte, hätte er mich auch beschreiben können.«
»Und doch«, sagte Kemp, »in England – heutzutage! Und der Mann war in seinem eigenen Hause, und Sie – nun ja! Sie beraubten ihn!«
»Berauben! Was Teufel! Nächstens werden Sie mich einen Dieb nennen. Sie sind doch gewiss nicht so töricht, noch nach der alten Pfeife zu tanzen. Können Sie meine Lage nicht begreifen?«
»Aber auch die seinige!«, sagte Kemp.
Der Unsichtbare erhob sich. »Was wollen Sie damit sagen?«
Ein Ausdruck der Entschlossenheit trat auf Kemps Gesicht. Er wollte sprechen, bezwang sich aber. »Schließlich«, sagte er in plötzlich verändertem Ton, »musste es wohl geschehen. Sie befanden sich in einer Zwangslage. Und doch – –«
»Natürlich war ich in einer Zwangslage – in einer höllischen Zwangslage! Und er brachte mich zur Verzweiflung mit seinem Revolver und dem Öffnen und Versperren der Türen. Sie tadeln mich nicht, nicht wahr? Sie machen mir deshalb keine Vorwürfe?«
»Ich mache niemals jemandem Vorwürfe«, erwiderte Kemp. »Das ist ganz unmodern. Was taten Sie dann?«
»Ich war hungrig. Unten fand ich einen Laib Brot und etwas Käse – mehr als genug, um meinen Hunger zu stillen. Ich nahm auch etwas Branntwein mit Wasser und dann ging ich an dem großen Bündel vorbei – es lag ganz still – in das Zimmer mit den alten Kleidern. Dort blickte ich durch eine Spalte im Vorhang zum Fenster hinaus. Draußen war hellichter Tag – blendend hell, im Vergleich mit den dunklen Schatten des unfreundlichen Hauses, in dem ich mich befand. Meine Erregung wich langsam dem klaren Bewusstsein meiner Lage.
Ich begann das Haus systematisch zu durchsuchen. Ich vermutete, dass der Bucklige schon einige Zeit allein dort gewohnt haben musste. Er war ein sonderbarer Kauz. – Alles, was mir möglicherweise von Nutzen sein konnte, trug ich in das Zimmer mit den Kleidern, um dort eine sorgfältige Auswahl zu treffen.
Ich hatte daran gedacht, mein Gesicht und alles, was von mir sichtbar sein sollte, zu schminken und zu pudern; dies hätte aber den Nachteil gehabt, dass ich Terpentin und andere Mittel und ziemlich viel Zeit gebraucht hätte, um mich wieder unsichtbar zu machen. Endlich wählte ich eine etwas besser geformte Nase, die nicht lächerlicher war als die vielen anderen menschlichen Nasen, dunkle Augengläser, einen grauen Backenbart und eine Perücke. Unterkleider fand ich keine, aber die konnte ich später kaufen; so nahm ich inzwischen einen Domino und einige weiße Halstücher. Auch Socken suchte ich vergeblich, aber die Schuhe des Buckligen waren ziemlich weit und genügten mir. In der Geldlade unten waren drei Sovereigns und 30 Schilling in Silber, und in einem versperrten Kasten, den ich aufbrach, acht Pfund in Gold. So konnte ich, neu ausgestattet, wieder in die Welt hinausgehen.
Dann zögerte ich wieder. War meine Erscheinung wirklich glaubwürdig? Ich versuchte es, mich in dem kleinen Schlafzimmerspiegel von allen Seiten zu betrachten, ob nicht irgendwo eine Lücke klaffe, aber alles schien in Ordnung zu sein. Ich war eine groteske Figur, wie man sie auf dem Theater zu sehen pflegt, aber sicher keine physische Unmöglichkeit. Dann schloss ich die Fensterladen und unterzog mit Hilfe des großen Stehspiegels meine ganze Gestalt einer genauen Untersuchung.
Es dauerte einige Minuten, bis ich den Mut fand, die Tür aufzuschließen und auf die Straße hinauszutreten. Der kleine Mann sollte sich aus dem Tuch wickeln, wann er wollte. Nach fünf Minuten lagen ein Dutzend Straßenbiegungen zwischen mir und dem Laden. Ich schien nicht besonders aufzufallen. Die letzte Schwierigkeit schien beseitigt.«
Er hielt wieder ein.
»Und Sie kümmerten sich nicht weiter um den Buckligen?«, fragte Kemp.
»Nein«, erwiderte der Unsichtbare. »Ich habe auch niemals gehört, was aus ihm wurde. Ich vermute, dass er sich losband oder das Tuch zerriss. Die Knoten waren ziemlich fest.«
Er schwieg, ging ans Fenster und blickte hinaus.
»Was geschah, als Sie hinauskamen?«
»O! Nichts als Enttäuschungen erlebte ich. Ich dachte, meine Leiden wären vorüber. Tatsächlich glaubte ich ungestraft tun zu dürfen, was ich wollte – nur mein Geheimnis durfte ich nicht verraten. So dachte ich. Was ich nun tat, welche Folgen meine Handlungen auch haben mochten – mir galt es gleich. Ich brauchte nur meine Kleider abzulegen und zu verschwinden. Niemand konnte mich halten. Ich konnte mir Geld nehmen, wo ich es fand. Ich beschloss, mir ein besonders gutes Mahl zu gönnen, dann wollte ich in einem guten Hotel absteigen und meine Garderobe ergänzen. Ich war erstaunlich hoffnungsselig; es ist nicht besonders angenehm, erzählen zu müssen, was für ein Esel ich war. Ich ging in ein Gasthaus und war schon nahe daran, mein Frühstück zu bestellen, als ich mich besann, dass ich nicht essen konnte, ohne mein unsichtbares Gesicht zu zeigen. So sagte ich dem Mann, dass ich in zehn Minuten zurück sein würde, und ging verzweifelt fort. Ich weiß nicht, ob Sie, wenn Sie sehr hungrig waren, jemals eine solche Enttäuschung erlebten.«
»Vielleicht keine so bittere«, sagte Kemp, »aber ich kann sie mir vorstellen.«
»Ich hätte die dummen Kerle prügeln können. Endlich konnte ich dem Verlangen nach einer anständigen Mahlzeit nicht länger widerstehen, ging in ein anderes Gasthaus und verlangte ein Separatzimmer. Ich sei arg entstellt, erklärte ich. Sie sahen mich neugierig an, aber natürlich war es nicht ihre Sache – und so kam ich endlich zu meinem Mittagsmahl. Es war nicht besonders gut, aber es genügte; und als ich damit fertig war, zündete ich mir eine Zigarre an und suchte einen neuen Plan zu entwerfen. Und draußen stürmte und schneite es.