H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
gesehen zu haben.
Es war ein kalter Tag und ein scharfer Nordwind fegte durch die Straßen. Ich ging schnell, um von niemand überholt zu werden. Jede Kreuzung brachte Gefahr, jeder Passant musste aufmerksam beobachtet werden. Überdies hatte ich mich von neuem erkältet und lebte in fortwährender Angst, dass mein Niesen die Aufmerksamkeit auf sich lenken könnte.
Endlich erreichte ich das Ziel meines Suchens, einen schmutzigen, kleinen Laden in einer Seitengasse von Drury Lane, mit einem Schaufenster voll Theaterflitter, falscher Juwelen, Perücken, Schuhe und Dominos. Der Laden war altmodisch, dunkel und niedrig und lag in einem unfreundlichen, dunkeln, vierstöckigen Hause. Ich spähte durch das Fenster, sah niemand drinnen und trat ein. Das Öffnen der Tür setzte eine lärmende Glocke in Bewegung. Ich ließ die Tür offen und ging um eine leere Kleiderpuppe herum hinter einen hohen Stehspiegel in eine Ecke des Ladens. Eine Minute lang zeigte sich nichts. Dann hörte ich schwere Tritte durch ein Zimmer gehen und ein Mann erschien im Laden.
Ich hatte jetzt alles genau überlegt. Meine Absicht war, mich ins Haus einzuschleichen, und wenn alles ruhig sein würde, mir eine Perücke, Maske, Brille und einen Anzug zu suchen und mich der Welt in einer vielleicht komischen, aber immerhin annehmbaren Gestalt zu zeigen. Bei dieser Gelegenheit konnte ich natürlich auch alles Geld, das ich fand, an mich nehmen.
Der Mann, der den Laden betreten hatte, war klein und bucklig, hatte buschige Augenbrauen, lange Arme und sehr kurze, krumme Beine. Augenscheinlich hatte ich ihn bei seinem Mahl gestört. Er blickte mit dem Ausdruck der Erwartung im Laden umher. Dieser gab einem Ausdruck der Überraschung und endlich des Zornes Raum, als er den Laden leer sah. ›Verdammte Buben!‹ sagte er. Er ging zur Tür und blickte die Straße hinauf und hinunter. Bald darauf kam er zurück, stieß die Ladentür zornig mit dem Fuß zu und ging fluchend zu der Tür, die in das Innere des Hauses führte.
Ich trat vor, um ihm zu folgen. Bei dem Geräusch meiner Bewegungen hielt er plötzlich inne. Auch ich blieb, von seinem feinen Gehör überrascht, stehen. Dann schlug er mir die Tür vor der Nase zu.
Ich zögerte. Plötzlich hörte ich, wie sich seine Schritte rasch wieder näherten und die Tür aufs neue geöffnet wurde. Er sah im Laden umher, wie jemand, der seiner Sache nicht ganz sicher ist. Dann untersuchte er, leise vor sich hinsprechend, den Ladentisch, blickte in alle Ecken und blieb endlich unentschlossen stehen. Er hatte die Tür offen gelassen, und ich schlüpfte in das Haus.
Das Zimmer, das ich betrat, war ein armseliger, kleiner Raum mit einem Haufen großer Masken in der einen Ecke. Auf dem Tisch stand sein verlassenes Frühstück und es war eine bittere Aufgabe für mich, Kemp, den Duft des Kaffees einzuatmen und auf der Lauer zu stehen, während er zurückkehrte und seine Mahlzeit fortsetzte. Drei Türen gingen aus dem kleinen Raum, eine führte zum ersten Stockwerk und eine hinunter, aber alle waren geschlossen. Ich konnte nicht aus dem Zimmer, solange er drinnen blieb. Er war so wachsam, dass ich mich kaum bewegen durfte. Mein Rücken war der Zugluft ausgesetzt, und zweimal unterdrückte ich ein Niesen gerade noch zur rechten Zeit.
Die Beobachtungen, welche ich als ungesehener Zuschauer machte, waren neu und interessant, aber trotzdem war ich ihrer herzlich müde und ungeduldig, lange bevor er seine Mahlzeit beendet hatte. Endlich war er fertig, legte die Reste seines Brotes und die Krumen, die er von dem senfbefleckten Tischtuch aufgelesen hatte, auf die schwarze Zinnplatte, auf welcher die Teekanne stand, und nahm alles mit sich hinaus. Seine Last verhinderte ihn, die Tür hinter sich zu schließen – wie er gewiss gern getan hätte. Ich habe niemals jemand gesehen, der auf das Schließen von Türen so erpicht gewesen wäre wie dieser Mann. Ich folgte ihm in eine sehr schmutzige, im Souterrain gelegene Küche, wo ich das Vergnügen hatte, ihm zuzusehen, wie er das Geschirr abzuwaschen begann. Dann stieg ich, als ich fand, dass ich auf dem Steinboden kalte Füße bekam und mein Warten nutzlos war, wieder hinauf und setzte mich in seinen Stuhl beim Kamin. Das Feuer brannte schlecht und ich legte gedankenlos ein wenig Kohle auf. Das Geräusch brachte ihn sofort herauf und er suchte das ganze Zimmer ab – auf ein Haar hätte er mich berührt. Selbst nach eingehender Untersuchung schien er nicht befriedigt. Er blieb auf der Schwelle stehen und warf einen Blick zurück, ehe er wieder hinunterging.
Eine Ewigkeit musste ich in dem kleinen Wohnzimmer warten; endlich kam er herauf und öffnete die Tür, die zum oberen Stockwerk führte. Ich folgte ihm unmittelbar auf den Fersen.
Auf der Treppe blieb er plötzlich stehen, sodass ich beinahe in ihn hineingestoßen wäre. Er wendete sich um, blickte mir gerade ins Gesicht und lauschte. ›Ich hätte schwören können‹, sagte er. Er legte die lange, haarige Hand an die Unterlippe und blickte die Treppe hinauf und hinunter. Dann brummte er etwas vor sich hin und stieg wieder aufwärts.
Die Hand auf der Türklinke blieb er von neuem stehen, mit demselben zornig-erstaunten Ausdruck im Gesicht. Er begann meine leisen Bewegungen zu gewahren – der Mann muss teuflisch feine Ohren gehabt haben. Plötzlich brach er in Wut aus.– – ›Wenn jemand hier im Hause ist …‹ rief er mit einem Fluch, ohne die Drohung zu beendigen. Er steckte die Hand in die Tasche, fand nicht, was er suchte, und eilte geräuschvoll an mir vorüber die Treppe hinunter. Ich folgte ihm nicht, sondern setzte mich auf die oberste Stufe und wartete seine Rückkehr ab.
Bald kam er wieder herauf, noch immer vor sich hinsprechend. Er öffnete die Tür des Zimmers und schlug sie, bevor ich noch eintreten konnte, rasch hinter sich zu.
Ich beschloss nun, das Haus zu durchstöbern; es war sehr alt und baufällig, so dumpfig, dass sich die Tapeten von den Mauern lösten, und voll von Ratten. Die Türangeln waren verrostet und ich fürchtete mich, die Türen zu öffnen. Mehrere Zimmer waren unmöbliert, in anderen lag Theaterkram herum. In einem Zimmer fand ich einen Haufen alter Kleider, die ich zu durchstöbern begann. In meinem Eifer vergaß ich sein scharfes Gehör vollkommen. Ich hörte leise Tritte und blickte gerade zur richtigen Zeit auf, um ihn mit einem altmodischen Revolver in der Hand zu erblicken. Ich verhielt mich ganz still, während er mit offenem Munde argwöhnisch umherschaute. ›Das muss sie gewesen sein‹, sagte er langsam. ›Verflucht!‹
Leise schloss er die Tür und unmittelbar darauf hörte ich, wie der Schlüssel rasch umgedreht wurde. Dann verklangen seine Schritte und ich wurde mir plötzlich bewusst, dass ich eingeschlossen war. Eine Minute lang wusste ich nicht, was ich beginnen sollte. Ratlos ging ich von der Tür zum Fenster und wieder zurück. Endlich entschloss ich mich, vor allem anderen die Kleider zu untersuchen, dabei warf ich aus einem oberen Fach einen ganzen Stoß zu Boden.