H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
verschlang er.
»Er ist unsichtbar!«, sagte er. »Und in allem, was man darüber liest, etwas Wildes, das an Wahnsinn grenzt. Was er zu tun imstande wäre! Was er zu tun imstande wäre! Und droben ist er frei wie die Luft. Was soll ich nur tun? Wäre es zum Beispiel ein Wortbruch, wenn ich – – – Nein.«
Er ging zu einem kleinen, unordentlichen Pult in der Ecke und begann eine Karte zu schreiben. Halbfertig, zerriss er sie wieder und schrieb eine andere. Dann überlas er die Zeilen und überlegte noch einmal. Endlich nahm er einen Briefumschlag und adressierte ihn an »Herrn Oberst Adye, Port Burdock.«
Während Kemp schrieb, war der Unsichtbare erwacht. Er war in übler Laune und Kemp, der gespannt auf jeden Ton horchte, hörte ihn durch das Schlafzimmer eilen. Dann wurde ein Stuhl umgeworfen und das Waschbecken zerschmettert. Kemp eilte nach oben und pochte ungestüm.
1 Cum grano salis (»mit einem Korn Salz«). Die getroffene Aussage wird eingeschränkt. <<<
19. Kapitel – Optische Grundprinzipien
Was gibt es?«, fragte Kemp, als ihn der Unsichtbare einließ.
»Nichts«, war die Antwort.
»Aber zum Teufel! Der Lärm?«
»Ein Anfall von übler Laune«, entgegnete der Unsichtbare. »Ich vergaß meinen Arm; und der schmerzt mich.«
»Sie scheinen zu solchen Anfällen zu neigen?«
»Allerdings.«
Kemp ging durch das Zimmer und las die Glasscherben auf. »Man weiß alles über Sie«, sagte er dann, die Splitter in der Hand. »Alles, was in Iping und unten am Fuße des Hügels geschehen ist. Die Welt ist sich ihres unsichtbaren Bürgers bewusst geworden. Aber dass Sie hier sind, weiß niemand.«
Der Unsichtbare fluchte.
»Das Geheimnis ist verraten. Ich vermute, dass es ein Geheimnis war. Ich kenne Ihre Pläne nicht, aber ich bin natürlich begierig, Ihnen zu helfen.«
Der Unsichtbare setzte sich auf das Bett.
»Unser Frühstück steht oben«, sagte Kemp, so unbefangen als möglich, und sah mit Entzücken, dass sein Gast sich willig erhob. Kemp ging auf der engen Treppe zum Studierzimmer voraus.
»Bevor wir gemeinschaftlich arbeiten können«, sagte Kemp, »muss ich über Ihre Unsichtbarkeit mehr wissen.« Nachdem er rasch einen einzigen, nervösen Blick durch das Fenster geworfen, ließ er sich mit einer unbefangenen Miene nieder, als ob er seine Aufmerksamkeit ausschließlich der Aussprache mit dem Unsichtbaren zuzuwenden wünschte.
Wieder tauchten ihm Zweifel an der Möglichkeit der ganzen Sache auf, und wieder verschwanden sie, als er zu Griffin hinüberblickte, der, ein kopf- und handloser Schlafrock, am Frühstückstische saß und sich mit einer wie durch ein Wunder gehaltenen Serviette über unsichtbare Lippen fuhr.
»Es ist sehr einfach – und durchaus nicht unglaublich«, sagte Griffin, die Serviette weglegend.
»Für Sie zweifellos, aber – –« Kemp lachte.
»Nun, sehen Sie, auch mir schien es zuerst wunderbar. Und jetzt, großer Gott! … Aber wir werden noch große Dinge vollbringen! Auf den Gedanken kam ich zuerst in Chesilstowe.«
»Chesilstowe?«
»Dorthin ging ich, als ich London verließ. Sie wissen, dass ich der Medizin den Rücken kehrte und mich den Naturwissenschaften zuwendete? Nicht? Nun, es war so. Die Lehre vom Licht faszinierte mich.«
»Ah!«
»Optische Dichte! Der Gegenstand ist ein Netz von Rätseln – ein Netz, durch welches die Lösungen trügerisch lockend durchschimmern. Und da ich erst zweiundzwanzig Jahre alt und voll Begeisterung war, gelobte ich mir: diesen Forschungen will ich mein Leben weihen. Das ist der Mühe wert. Sie wissen, wie töricht man mit zweiundzwanzig Jahren ist?«
»Heute nicht minder wie damals«, sagte Kemp.
»Als ob Wissen dem Menschen wahre Befriedigung gewähren könnte!
Aber ich machte mich an die Arbeit – wie ein Nigger. Und ich hatte kaum ein halbes Jahr gearbeitet und über die Sache nachgedacht, als plötzlich ein blendendes Licht durch eine der Maschen drang. Ich fand ein allgemeines Prinzip der Pigmente und der Strahlenbrechung – eine Formel, einen geometrischen Ausdruck, der vier Dimensionen in sich schließt. Narren, ungebildete Menschen, selbst einfache Mathematiker begreifen nicht, welche Bedeutung eine allgemeine Formel für denjenigen haben kann, der sich mit Molekularlehre befasst. In meinen Büchern – den Büchern, welche der Landstreicher versteckt hat – stehen Wunder, Offenbarungen! Aber das war noch nicht die Methode, es war nur ein Gedanke, welcher zu einer Methode führen konnte, durch die es möglich sein sollte, ohne sonst eine Eigenschaft des Körpers zu verändern – außer in einigen Fällen die Farben – den Brechungswinkel irgendeines Körpers, sei er nun fest oder flüssig, bis auf denjenigen der Luft herabzusetzen – soweit praktische Zwecke in Frage stehen.«
»Hallo!«, sagte Kemp. »Das ist seltsam. Aber ich sehe doch noch nicht ganz – ich begreife, dass Sie auf diese Weise einen wertvollen Stein verderben können – aber von da bis zur eigenen Unsichtbarkeit ist noch ein weiter Weg.«
»Ganz richtig«, sagte Griffin. »Aber bedenken Sie, dass die Sichtbarkeit von dem Verhalten der sichtbaren Körper zum Licht abhängt. Lassen Sie mich Ihnen die Elementargrundsätze vortragen; als ob Sie dieselben nicht kennen würden. Es wird meine Ansicht klarer machen. Sie wissen sehr wohl, dass ein Körper das Licht entweder absorbiert oder reflektiert oder bricht, oder auch alles dieses zugleich tut. Wenn er das Licht weder reflektiert noch bricht noch absorbiert, kann er nicht durch sich selbst sichtbar sein. Sie sehen zum Beispiel eine undurchsichtige, rote Schachtel, weil die Farbe einen bestimmten Teil des Lichts absorbiert und den Rest, das ganze Rot des Lichts, reflektiert. Wenn sie gar keinen Teil des Lichts absorbieren, sondern das Ganze reflektieren würde, wäre es ein leuchtender, weißer Gegenstand. Silber! Eine Schachtel aus Diamant würde weder viel Licht absorbieren, noch von der Oberfläche reflektieren; nur hie und da würde das Licht, wo es gerade auf günstig geneigte Flächen auffällt, reflektiert und gebrochen werden, sodass man den Eindruck von blendenden Rückstrahlungen und unermesslichen Tiefen erhielte. Eine Art Lichtskelett. Eine Schachtel aus Glas wäre nicht so glänzend, nicht so deutlich sichtbar wie eine Diamantschachtel, weil die Reflexion und Brechung geringer wären. Ist Ihnen das klar? Von gewissen