Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa Simon
vor dem Mann fürchtete. Er dachte an das Geld, das der von ihm zurückfordern würde. Es wurde ihm ganz heiß.
»Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal«, riet er ihm väterlich. Er öffnete den Rucksack, schnell ging das nicht, weil seine Hände so zitterten. Wenn das so weiterging, war er bald genauso ein Nervenbündel wie dieser Mann. Er holte aus dem Rucksack eine dickbauchige Flasche, hielt sie hoch und versuchte seinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen.
»Die Flasche haben Sie zwar nicht bestellt, aber ich habe sie trotzdem mitgebracht. Es ist Jenever. Ein vorzüglicher Magentrunk. Hilft immer. Ist nicht nur für den Magen gut, beruhigt auch die Nerven. Ich hol mal rasch Gläser aus der Küche.«
Die Küche war genauso groß wie die Stube. An der spartanischen Einrichtung hatte der Mann, der mit einem tollen Sportwagen angefahren kam, nichts auszusetzen gehabt.
Karsten füllte die Gläser, der Mann war ihm in die Küche gefolgt und ließ sich auf die Eckbank fallen.
Nachdem Jo das Glas mit einem Zug ausgetrunken hatte, goß Karsten nach und bemühte sich um einen beruhigenden Ton, als spreche er mit einem kranke Kind.
»Es sind wirklich nette Kinder. Sie sind doch gerade erst angekommen, da sind sie natürlich außer Rand und Band. Sie leben in Berlin, mitten in der Großstadt. In einem Haus, das ohne Sonne ist. Überlegen sie mal. Die Kinder müssen bei dieser Hitze irgendwo auf eiem Hinterhof spielen. Außerdem ist es nicht mein Häuschen, das vermietet wurde. Sie können mich also nicht dafür bestrafen, daß mein Nachbar sein Ferienhaus vermietet.«
Jo trank auch das zweite Glas leer. Der Bauer musterte ihn ängstlich. Dachte er noch immer daran, sofort abzufahren? Sein Wagen stand in der Scheune und wurde von seinen Kindern mehrmals am Tag bestaunt.
»Ich bin ganz sicher, daß die junge Frau mit sich reden läßt. Sie ist ausgesprochen liebenswürdig. Sie wird ganz sicher dafür sorgen, daß die Kinder ruhig sind. Lärm machen und sich austoben können sie am Strand. Außerdem steht heute der Wind ungünstig; bei Westwind werden Sie von dem Häuschen drüben überhaupt nichts hören, Westwind haben wir doch beinahe immer.« Auf eine kleine Notlüge kam es dem Bauern nicht an. »Sie dürfen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lassen«, mahnte er ihn.
»Sie verstehen das nicht.« Jo strich erschöpft über sein Gesicht. »Ich glaube, Sie verstehen es nicht.« Jos Stimme klang mutlos. »Wie sollten Sie auch? Ich bin hierher gekommen, um ungestört zu arbeiten. Mich lenkt jedes Geräusch ab, ich kann mich nicht in meine Arbeit vertiefen, wenn Lärm um mich ist.«
Er sah in das wettergegerbte Gesicht des Bauern und seufzte resigniert. »Wahrscheinlich halten Sie mich für verrückt.«
Herr Karsten erschrak. Sah man ihm wirklich so deutlich seine Gedanken an?
»Wer denkt denn so was?« wehrte er entrüstet ab. »Ich stelle es mir entsetzlich schwer vor, Bücher zu schreiben. Nicht, daß ich viel lese, dafür habe ich keine Zeit. Aber meine Frau steckt ständig ihre Nase in ein Buch.« Er hütete sich zu sagen, daß er oft ärgerlich darüber war und von Zeitverschwendung murrte. »Sie werden Ihre Ruhe haben, das verspreche ich Ihnen. Ich gehe gleich zu der Frau rüber und spreche mit ihr. Ich zeige ihr sogar den kleinen Tümpel zwischen den Felsen, wo die Kinder toben und baden können, ohne daß es gefährlich für sie ist. Ihnen würde so ein Tag unten am Strand auch gut tun«, setzte er mit einem mitleidigen Blick auf Jo hinzu. »Als Sie herkamen, sahen Sie viel frischer aus.«
Jo erhob sich. Der Kerl hat ’ne gute Figur, stellte Karsten bei sich fest. Mit den breiten Schultern müßte er einen guten Arbeiter abgeben. Nach einem Tag auf dem Feld würde er abends müde ins Bett fallen, und nach wenigen Tagen wären seine Nerven besser beieinander.
Jetzt begann der Hund wieder zu kläffen, ohrenbetäubend laut klang es. Jo hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.
»Es ist ein Boxer«, glaubte Karsten erklären zu müssen. »Der arme Kerl wird vor Freude, endlich über einen weichen Boden laufen zu können, außer sich sein. Hören Sie nur, wie glücklich sein Bellen klingt.«
»Für meine Ohren klingt es wie eine nervtötende Sirene. Ich kann es nicht ertragen.«
Kinderstimmen jauchzten, überschlugen sich vor Übermut und übertönten das beruhigende Geräusch der Wellen.
Jo ging ins Zimmer zurück und knallte das Fenster zu. Das hätte er nicht tun dürfen, so eine Behandlung duldeten die Fensterrahmen nicht, die schon Jahrzehnte dem Wetter getrotzt hatten.
Verdutzt starrte er auf den Flügel, den er in der Hand hielt, und sah anklagend auf den Bauern, der tadelnd seinen Kopf schüttelte.
»Das geht aber nicht, daß Sie Ihren Ärger an den Fenstern auslassen. Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben. Jetzt kann ich eine Zeit damit vertun, die Sache wieder zu reparieren. Dabei hätte ich wirklich wichtigeres zu tun.«
Jo floh aus dem Zimmer. Er riß eine Jacke vom Haken, der als Garderobe diente, und stürmte hinaus. Für den verwilderten Garten hatte er nicht einen Blick, er rannte über den Weg zu den Dünen hinunter, zertrat die strohigen Gräser. Nachdem er eine halbe Stunde gerannt war, war er nicht nur außer Atem, er wurde auch ruhiger. »Es bringt nichts, sich aufzuregen, alter Knabe«, redete er sich zu, »abwarten. Wenn du nicht arbeiten kannst, suchst du dir einfach etwas anderes.«
Aber es graute ihm davor. Noch einmal in eine fremde Umgebung eintauchen zu müssen, erschien ihm als schreckliche Zeitverschwendung.
Er hatte den Strand erreicht, er setzte sich auf einen großen Stein, streckte die Beine über den Sand und hielt das Gesicht der Sonne entgegen. Ruhe umfing ihn. Er hörte den Wellen zu, sie liefen über die Steine, flossen zurück, der monotone Gesang streichelte seine Nerven. Er sah einer Möwe zu, die eifrig zwischen den Steinen pickte, den Kopf hob und schrille Schreie ausstieß, als kreischte sie dem Himmel ihre Beschwerde entgegen.
*
»Hast du schon mal geangelt?« Jo war so in Gedanken vertieft gewesen, daß er das Kind nicht wahr genommen hatte. Er zuckte zusammen und starrte auf das kleine Wesen.
»Was hast du denn? Du zuckst ja zusammen, als hätte ich einen Schuß abgefeuert. Du siehst mich richtig komisch an.«
Ich muß mich wirklich mehr zusammennehmen, rief Jonathan sich zur Ordnung.
»Entschudlige«, bat er das Kind, »ich habe dich nicht kommen gehört.«
»Nee? Das kommt sicher daher, weil ich keine Schuhe anhabe. Aber ich kann dir sagen, die Steine picken ganz erbärmlich. Wie die Indianer das machen, ständig barfuß herumzulaufen, das kapier ich nicht.«
»Sie sind es einfach gewohnt«, erklärte Jo dem Kind. War es ein Junge oder ein Mädchen? Das Wesen trug winzige, verwaschene Shorts, ein buntes Hemd und hatte so zerkratzte Beine, wie Fridolin sie noch nie gesehen hatte.
»Ich heiße Lea«, erklärte das Kind, als könnte es Gedanken lesen. »Ich will angeln. Ich habe nämlich zum Geburtstag eine Angel geschenkt bekommen. Ich dachte, es ist ganz leicht, ich dachte, hier gibt es haufenweise Fische. Aber es beißt keiner an. Irgendwas muß ich falsch machen. Darum frage ich dich, ob du schon mal geangelt hast. Ich stelle es mir Spitze vor, wenn wir zum Mittagessen selbst gefangenen Fisch braten können.«
Er sah in das unglückliche Gesichtchen, das von großen braunen Augen beherrscht wurde. Etwas in diesem Gesicht rührte ihn an; was es war, hätte er nicht zu sagen gewußt.
»Hast du einen Köder an den Haken gemacht?«
»Eine Köder?« Der Mund blieb vor Erstaunen geöffnet. Ein Schneidezahn fehlte. »Was ist das denn?«
»Würmer. Würmer, die du hier suchen kannst. Wenn das Wasser zurückgeht, kannst du nach Wattwürmern graben. Du kannst natürlich auch Mehlwürmer in der Zoohandlung kaufen, ich weiß aber nicht, ob es so ein Geschäft hier im Dorf gibt.«
»Was meinst du mit Watt? Was meinst du damit, wenn das Wasser zurückgeht?«
»Hast du noch nie etwas von Ebbe und Flut gehört?«
Jo