Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa Simon
hast.« Johann war der Älteste der fünf Schönekinder. Bei allen Streichen war er der Anführer, mit seinen neun Jahren wußte er sich bei seinen Geschwistern Respekt zu verschaffen. Wenn es nicht mit Worten ging, dann hatte er andere Mittel. Aber trotz seiner rauhen Schale liebte er seine Geschwister, aber noch mehr liebte er Susanne. Er fühlte sich für alle verantwortlich, schließlich war er nicht umsonst der Älteste.
»Ich hab doch schon alles gesagt.« Lea fühlte sich sehr unglücklich. »Sie war furchtbar wütend auf ihn. Aber zu mir war er sehr nett, er hat mir gesagt, wo ich Wattwürmer suchen kann.«
»Hör auf mit deinen Würmern, das hätte ich dir auch sagen können. Er beschwert sich also über uns, er will uns vielleicht sogar von hier vertreiben. Er will uns loswerden. Aber da ist er schief gewickelt.« Johanns Bubengesicht verzog sich angriffslustig. Er war der Einzige, der seinem verstorbenen Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sein schmales Gesicht mit den dunklen Haaren und den braunen Augen vergaß man nicht so schnell. Er war lang aufgeschossen und wirkte älter, als er war.
»Der wird sich wundern«, knirschte er rachsüchtig. »Was fällt dem denn ein, Susanne zu ärgern? Gleich am ersten Tag.«
Sie hockten in dem Schlafzimmer, saßen auf dem Bett, zwei hockten auf dem Fußboden. Sie hörten Susanne in der winzigen Küche hantieren. Sie hatte ihnen zum Abendessen Hefeklöße versprochen.
Wieviel Arbeit das machte, war den Kindern nicht klar. Ihnen war nur wichtig, daß Susanne lachte und nicht traurig war. Traurig waren sie viel zu lange gewesen. Als die Koffer gepackt waren und Susanne das Auto aus der Garage holte, hatte Johann seinen Geschwistern eingeschärft:
»Geheult wird nicht mehr. Verstanden? Wenn einer wieder einen Rappel kriegt, soll er das gefälligst so machen, daß Susanne es nicht sieht. Sonst kriegt ihr es mit mir zu tun.«
Draußen regnete es, nachmittags war ein heftiges Gewitter losgebrochen. Susanne hatte mit ihnen in dem Zimmer gesessen, das jetzt ihr Wohnzimmer war. Susanne verstand es, mit wenigen Mitteln Behaglichkeit zu zaubern, das spürten sogar die Kinder. Sie hatte ihnen vorgelesen, sie hatte ihnen erklärt, wie ein Gewitter entstand. Sie hatte es geschafft, daß nicht einmal der dreijährige Fridolin, der Benjamin, Angst hatte. Er saß auf ihrem Schoß, den Daumen im Mund und hörte zu.
Nur Charlie hatte sich unter den Tisch verkrochen, und bei jedem Donner stieß er ein angstvolles Heulen aus.
»Er ist dumm«, hatte die fünfjährige Laura nachsichtig erklärt. »Er kapiert nicht, daß man vor dem Donner überhaupt keine Angst haben muß. Dafür ist er schließlich auch nur ein Hund.«
Jetzt hielten die fünf Kriegsrat, wie sie es nannten, und Johann führte das Wort.
»Das ist klar wie Kloßbrühe«, erklärte Johann großspurig. Er streckte seine langen Beine über den Flickenteppich, Fridolin lag bäuchlings darauf, seinen Teddy im Arm und flüsterte etwas in das angenagte Ohr. Er war der einzige, der nicht zuhörte.
»Also, wir werden uns Dinge ausdenken, die hinhauen müssen. Wir werden ihm Streiche spielen und ihn vergraulen, das ist ja klar. Aber es darf nie herauskommen, daß wir es waren, wir wollen ja nicht, daß Susanne Ärger kriegt.«
»Aber er ist nett, wirklich.« Lea rückte von Johann ab. »Susanne ist eine Erwachsene und er auch, manchmal können Erwachsene furchtbar dumm sein.«
»Quatsch keine Opern«, fuhr Thomas sie an. »Er ist unser Feind. Basta. Wir haben ihm hiermit den Krieg erklärt. Aber kein Wort zu Susanne, kapiert? Sonst setzt es was.«
Sie streckte ihm die Zunge heraus, war aber froh, daß Thomas nicht neben ihr saß. Er war schon acht Jahre, er war so alt, wie Lea schrecklich gern wäre. Mit acht Jahren durfte man eine halbe Stunde am Abend länger aufbleiben. Es war hart, daß Susanne alle Regeln der Eltern übernommen hatte.
»Jeder denkt nach«, bestimmte Johann, »wie wir ihn ärgern können. Heute nacht habt Ihr alle Zeit genug dafür. Wir müssen schon morgen mit unserer Arbeit beginnen. Schließlich haben wir nur fünf Wochen Ferien. Fünf Wochen gehen viel zu schnell herum.«
Bis auf Fridolin und Lea waren sie alle Feuer und Flamme. Nur für Johann war es kein übermütiger Spaß, ihm war es ernst. Er mußte diese kleine zusammengeschrumpfte Familie verteidigen. Er durfte nicht zulassen, daß jemand Susanne ärgerte oder ihr auch nur ein Haar krümmte. Er wußte, wie dankbar sie sein mußten, daß Susanne jetzt ihre Mutter war.
Johann würgte an dem Elend, das sein Herz schwer machte. Aber weinen durfte er erst, wenn er in seinem Bett lag, niemand es hörte und er allein war. Allein mit seinem großen Kummer. Es gab nur einen Trost: Susanne war da.
*
Eigentlich konnte Jonathan bei Gewitter sehr gut arbeiten. Überhaupt störte ihn nicht der Lärm, den die Natur verursachte. Aber anstatt zu arbeiten, stand er am Fenster, das Herr Karsten notdürftig und unter Brummen repariert hatte, und genoß das Schauspiel. Blitze zuckten im grellen Zickzack über den Himmel und landeten im Meer, Donner füllte die Luft.
Immer wieder spähte Jonathan zu dem kleinen Häuschen hinüber, das im unheimlichen Licht beklagenswert aussah, so, als könnte der Wind es umblassen und davontragen.
Die Kinder kamen aus der Stadt, so ein Naturschauspiel hatten sie gewiß noch nie gesehen. Er holte sein Fernglas vom Bord und spähte hinüber. Nichts war von ihnen zu sehen. Natürlich fürchteten die Kinder sich, wahrscheinlich hockten sie angstvoll im dunklen Zimmer.
Eine irrsinnige Idee von dieser Mutter, mit fünf Kindern in diese unwirtliche Gegend zu ziehen. Aber was konnte man auch schon von einer Mutter, die wie ein junges Ding aussah, erwarten?«
Jonathan wußte, daß beide Häuschen einmal von Vogelwarten bewohnt gewesen waren. Aber auf für Menschen unerklärliche Weise hatten die Möwen ihre Brutstätten verlassen und bewohnte jetzt die Dünen hinter dem Wall. Auch das Meer konnte hier dem Land nicht mehr gefährlich werden. Vor ungefähr hundert Jahren war gerade diese Dünenlandschaft häufig überschwemmt worden, ja, das Wasser war sogar bis zum Dorf gekommen, Tafeln an Hausmauern erzählten noch davon.
Jetzt kam das Wasser nicht einmal mehr bei Springflut bis zu den Höhlen im Felsen, bei Ebbe lief es weit zurück.
Jonathan ertappte sich bei dem Gedanken, daß er der kleinen Lea gern davon erzählen würde. Er erinnerte sich an die großen, wißbegierigen Augen. Er sah sogar das Lachen darin.
Das Gewitter hatte sich verzogen, jetzt strömte der Regen aus dunklen, tiefhängenden Wolken, als wollte er das Land überschwemmen. Seufzend setzte sich Jonathan an den Tisch. Natürlich gab er dem Drang nicht nach, der ihn vom Schreiben abhielt. Auf keinen Fall ging er zu den Kindern hinüber. Ja, wenn sie allein wären, dann wäre es ja sogar seine Christenpflicht gewesen. Dann müßte er sich um sie kümmern.
Die Hände lagen auf den Tasten der Schreibmaschine. Er hatte das Licht angezündet, wie gut, daß die Häuschen wenigstens Strom besaßen. Jetzt konzentriere dich, Jonathan Nolde.
Wie spöttisch diese Person gesagt hatte: ein Schriftsteller dieses Namens ist mir nicht bekannt…
Aber wie zärtlich hatte sie den Arm um die Kleine gelegt und ihr das Haar aus dem Gesicht gestrichen.
Hatte er nicht doch die Pflicht, sich um die sechs zu kümmern? Die junge Frau war doch diesem rauhen Leben gar nicht gewachsen.
Aber er ging nicht. Er schob die Maschine von sich, holte seinen Rotwein aus dem Schrank. Er vertiefte sich in sein Lieblingsbuch und hatte Glück, daß der Roman ihn gefangennahm.
Er schlief nicht sehr gut in dieser Nacht. Einmal glaubte er sogar, Stimmen gehört zu haben, ja, es war ihm, als schlichen Menschen um sein Haus. Wenn ihm seine Nerven einen Streich spielten, dann war das der letzte Kriminalroman, den er schrieb.
Strahlender Sonnenschein umfing ihn, als Jonathan unausgeschlafen sein Haus verließ. Er reckte gähnend die Arme über den Kopf und blinzelte. Der Himmel war tiefblau, das Meer lag wie ein silbrig blitzendes Tuch darunter. Selbst die Möwen machten weniger Lärm.
Und überhaupt