Gegen die Spielregeln. Philea Baker

Gegen die Spielregeln - Philea Baker


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Royal Victoria Dock war eines der wenigen Hafenbecken in London, das modernen Dampfschiffen, Segeldampfern und übergroßen Segelschiffen ausreichend Platz bot. Am Pier reihten sich zweistöckige Lagerhäuser, Getreidesilos und Schuppen aneinander. Eine Eisenbahnstrecke zum Transport der Waren war nur wenige Meter hinter den Häusern verlegt worden. Kein Dock war so gut ausgestattet wie dieses. Nahezu zwanzig Kilometer umfasste der Londoner Hafen mit seinen verschiedenen Docks, und nahtlos reihten sich in ihnen die Schiffe aneinander. Diese Tatsache machte London zu einer der reichsten Städte der Welt.

      Die drückende Hitze machte die Männer wortkarg, schweigend verrichteten sie ihre Arbeit, der Feierabend war noch lange nicht in Sicht. Die Ocean King lag an Pier sieben vor Anker.

      Ein Dutzend Männer, deren Oberkörper und Arme mit Tattoos übersät waren, war gerade damit beschäftigt, Holz aus einem baltischen Schoner in die Lagerhallen zu tragen. Die Ocean King lag direkt neben dem baltischen Schiff. Sie hatte den Auftrag, Kohle nach Boston zu liefern, bevor sie ihren Eignern Sears & Co. übergeben werden sollte. Drei Tage hatte es gebraucht, das Schiff zu beladen. Ryon kniff die Augen zusammen. Anders als am Morgen war es nun stechend hell. Die hohen Temperaturen und der kurze Schlaf – die Ereignisse des Vortages – forderten ihren Tribut: Er war müde. Immer wieder fielen seine Augenlider zu und er döste für Sekunden ein. Er hatte seine Jacke zwischen zwei Stapeln von Holzbalken oben bei den Lagerhallen ausgebreitet und es sich in deren Schatten bequem gemacht. Der Duft frisch geschnittenen Holzes, der den Platz umströmte, war ganz nach seinem Geschmack.

      Der Blick von hier war bestens geeignet, um die Geschehnisse im Hafenbecken zu verfolgen. Zwar war es nicht zwingend notwendig, dass er hier war – schließlich hatte er Kapitän Freeman am Morgen schon einen Besuch abgestattet – aber er wollte dabei sein, wenn die Ocean King ablegte. Wenn sein Schiff sich auf den Weg machte, den Atlantik zu überqueren.

      Es war 15:20 Uhr. Die geplante Abfahrt war um vierzehn Uhr gewesen. Schon vor einer Stunde hatte es danach ausgesehen, als würde das Schiff ablegen; die Tide war hoch genug, das Schiff längst beladen, die letzten Vorkehrungen der Schiffsleute getroffen. Die Zeit drängte, denn er hatte für den Nachmittag bereits einen Plan. Er wusste von Alexander Carlisle, dass Richard Bridgetown sonntagnachmittags im Londoner Herrenclub White’s dem Müßiggang frönte. Er wollte ihn sprechen. Obwohl ihm der Gedanke, Richard Bridgetown könne etwas mit dem Sabotageakt zu tun haben, absurd vorkam, war er von dessen Unschuld nicht überzeugt. Was ihm zu denken gab, war Bridgetowns Verhalten auf dem Ball. Bridgetowns Wut war immens gewesen, als er Tendman den Fausthieb verabreicht hatte. Er hatte den Eindruck, dass mehr als nur Tendmans Beschuldigung dafür verantwortlich war. Bei alledem hatte der Versicherer auch noch recht damit, dass das Lloyd’s Register kein sicherer Ort war. Jemand hatte die Dokumente der Bothnia aus dem Schließfach des Lloyd’s Register gestohlen und die Verantwortung hierfür lag bei Bridgetown. Sein Vorwurf, Bridgetown selbst hätte diese vielleicht gestohlen, weil er ein Freund von Thomas Ismay, dem Geschäftsführer der White Star Line, war, war haltlos. Bridgetown konnte befreundet sein mit wem auch immer. Der Freund seines Vaters war in Rage gewesen, seine Wut nicht ad hoc aufgetaucht mit Tendman – etwas schlummerte in Bridgetown und er wusste nicht, was es war. Der Leiter des Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping hatte ihm geholfen, die Bestattung seines Vaters zu organisieren. Sie hatten kaum über seinen Vater gesprochen. Er selbst hatte dies nicht forciert und Bridgetown hatte von sich aus auch keine Initiative ergriffen. Nachdem er sich beim ersten Treffen intensiv über seinen Vater ausgelassen hatte, war er nun in völliges Schweigen über diesen verfallen. Etwas fehlte. Er wollte Bridgetown sehen und mit ihm über seinen Vater sprechen. Außerdem gab es noch mehr Dinge, die er mit ihm klären wollte.

      Ryon streckte die Beine aus. Seine Gedanken wanderten zu Alessa. Einerseits sehnte er ihre Gegenwart herbei, anderseits wünschte er sich, er wäre ihr nie begegnet. Sie hatte seinen Kuss erwidert, er hatte ihre Lust deutlich gespürt. Aber vielleicht bereute sie schon, was sie getan hatte. Denn ihre brüske Reaktion auf seine Vermutung, es gäbe vielleicht einen anderen Grund, der sie von der Verfolgung ihrer Ziele abhielte, konnte bedeuten, dass es einen anderen Mann in ihrem Leben gab. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und schloss die Augen.

      Das laute Gespräch zweier Dockarbeiter in seiner Nähe weckte ihn. Die Männer aus dem Baltikum sprachen in ihrer recht derb klingenden Muttersprache, die er zwar als solche erkannte, aber nicht verstand. Ryon richtete sich auf und streckte sich. Seine Uhr zeigte ihm, dass er über eine halbe Stunde geschlafen hatte. Ein Blick auf den Pier verriet ihm, dass er das Ablegen der Ocean King verpasst hatte. Das Schiff vollführte gerade ein Wendemanöver, um anschließend Kurs auf die Schleuse nehmen zu können. Einer der Arbeiter drehte sich mit einem kurzen, abschätzigen Blick zu ihm um, wandte sich aber sogleich wieder dem Dock zu.

      Die Männer schienen sich über etwas zu amüsieren. Der Kräftigere imitierte eine Dame, die ihr Kleid mit gespreizten Fingern anhob und ein Schirmchen in der anderen Hand hielt. Dabei verbog er seinen Körper übertrieben, als balanciere er. Der andere lachte vulgär auf und erwiderte etwas, das sein Gegenüber zu einem Lachanfall trieb. Die beiden machten sich über eine Frau lustig.

      Ryon stand auf und trat zu den beiden. Tatsächlich stand am Ufer eine der Stadtkutschen. Auf der Bothnia, die ebenfalls an diesem Pier lag, war eine hoch gewachsene, schlanke Frau zu sehen. Ihr Gesicht wurde durch einen kleinen Schirm verdeckt. Kapitän McMickan lächelte über das ganze Gesicht. Es war selbst auf diese Entfernung zu sehen, dass er Gefallen fand an seinem Besuch. Die Frau drehte sich um und schritt auf den Steg. Sie hob den Schirm ein wenig und sah hinauf zu den Lagerhallen. Alessa! Was hatte sie hierher verschlagen?

      Einer der Männer neben ihm machte eine wegwerfende Geste, worauf beide dem Schauspiel den Rücken kehrten und wieder zur Lagerhalle gingen. Ryon trat ein Stück zurück. Er wollte nicht, dass Alessa ihn sah, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass sie ihn entdeckte.

      Kapitän McMickan deutete plötzlich zunächst den Pier entlang, schwenkte seinen Arm dann noch etwas weiter auf die Ocean King, die inzwischen geschmeidig auf die Schleuse zutrieb. Die weiße Takelage war teils ausgefahren und blitzte grell vor dem blauen Himmel.

      Alessa überquerte den Steg und stieg in die Kutsche. Sogleich setzte sich das Gefährt in Bewegung. Neugierig verfolgte Ryon, wie sie in seine Richtung fuhr, ihn direkt unterhalb seiner Position passierte. Kurz darauf stoppte die Kutsche und Alessa stieg aus. Verwundert beobachtete Ryon, wie sie zum Rand des Piers schritt, die Hand zum Schutz gegen die Sonne an die Stirn gelegt. Den Schirm hatte sie anscheinend in der Kutsche gelassen. Was tat sie da? Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz: Sie konnte nicht wissen, dass er geblieben war. Sie sah ihm nach!

      Alessa harrte in der Hitze aus, während die Bark die Schleuse passierte. Sie regte sich nicht, stand einfach bloß da. Nachdem die Ocean King aus dem Sichtfeld geglitten war, drehte sie sich um und schritt zur Kutsche.

      Ryon wich weiter zurück, denn er wollte nicht, dass sie ihn sah. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Herz raste.

       KAPITEL 8

       17:00 Uhr White’s Club

      Ryon nahm mit Schwung die fünf Stufen zum White’s Club hinauf. Von Carlisle wusste er, dass dort nur Mitglieder eingelassen wurden. Ihm war deshalb von vorneherein klar, dass es Probleme geben würde. Wie erwartet, verwehrte man ihm den Einlass. Erst musste Richard Bridgetown gerufen werden, dann öffneten sich die Türen. »Mr. Buchanan …«, rief Bridgetown überrascht aus und streckte ihm die Hand zur Begrüßung entgegen. Wie Ryon sogleich erkannte, waren die Knöchel von Bridgetowns Hand stark gerötet.

      »Mr. Bridgetown, ich hoffe, ich mache Ihnen keine Umstände …«

      »Natürlich nicht. Kommen Sie, lassen Sie uns nach oben gehen.« Bridgetown führte ihn die geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock. Beeindruckt betrachtete Ryon die edle Ausstattung des Hauses. Feinste Seidentapeten in tiefem Weinrot zierten die Wände, durchwirkt von einer filigranen floralen Struktur. Die Marmortreppe war mit einem gemusterten Teppich versehen, der die im Hause vorherrschende Farbe Weinrot ebenfalls aufgriff. Ein schwarzes gusseisernes Treppengeländer mit einem Handlauf aus Kirschholz führte in den ersten Stock. Vom


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