Gegen die Spielregeln. Philea Baker

Gegen die Spielregeln - Philea Baker


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hatte. Bridgetown steuerte in zügigen Schritten den Gesellschaftsraum an, sodass er kaum mehr als einen Blick darauf werfen konnte.

      Der Geruch kubanischer Zigarren lag in der Luft. Der Herrenclub war gut besucht und die Vielzahl der Gespräche verschaffte dem Raum eine angenehme, angeregte Atmosphäre. Riesige, von schweren Brokatvorhängen gerahmte Fenster gaben den Blick zur St. James Street frei. Das mittlere der Fenster war nicht viereckig wie die anderen, es war oben abgerundet, was besonders ansprechend aussah. Vor diesem Fenster waren zwei schwarze Chesterfieldsessel platziert, in denen zwei Herren verweilten, die sich offensichtlich sehr amüsierten. »William Legge, der Earl of Dartmouth, zur Linken und Prinz Arthur zur Rechten«, erklärte Bridgetown beiläufig, als er Ryons Blick folgte. »Dort hatte früher Beau Brummell gesessen und seine Wetten abgeschlossen«, ergänzte er augenzwinkernd. Keiner der Namen sagte Ryon etwas, aber offenbar handelte es sich um die High Society Londons. Wollte Bridgetown ihn auf die Ehre, hier sein zu dürfen, hinweisen? Wozu?

      Bridgetown steuerte zwei freie Sessel im hinteren Bereich des Raumes an. Sie nahmen Platz.

      »Mr. Bridgetown«, begann Ryon, nachdem sie es sich bequem gemacht hatten, »ich verlängere meinen Aufenthalt in London. Ich werde also bei der Beerdigung meines Vaters anwesend sein.«

      Bridgetowns Brauen zogen sich zusammen. Er betrachtete ihn aufmerksam. Einer der Clubdiener trat an sie heran. »Was darf ich den Herren bringen?«

      »Was halten Sie von einem Kaffee mit Cognac, Mr. Buchanan?«

      »Danke, sehr gern.«

      »Gut. Also zweimal.«

      Ryon entging der taxierende Blick des Dieners keineswegs. Er war nicht der Einzige hier, der ihn musterte. Carlisle hatte ihn informiert, was es mit dem Herrenclub auf sich hatte. Ausschließlich Engländer gehörten dem Club an, Aristokraten und Angehörige der Upperclass. Die Aufnahme in einen Club wie dem White’s unterlag strengsten Regeln. Man musste von mindestens zwei Clubmitgliedern vorgeschlagen werden, und dann entschied das Komitee über die Aufnahme. Dem einen oder anderen hatte es durch das Blackballing die Tür vor der Nase zugeschlagen. Das Komitee diskutierte, entschied, und wenn einer Aufnahme nicht zugestimmt wurde, dann warf man einen schwarzen Ball in den Mülleimer. Gäste waren nur in besonderen Fällen erlaubt. In seinem Fall hatte er sich das Zutrittsrecht durch Bridgetown erworben, der im White’s hohes Ansehen genoss. Ohne ihn hätte man ihm niemals Eintritt gewährt. Nicht einmal als Diener.

      »Die Ocean King hat die Heimreise heute ohne Sie angetreten?«

      »Ja.«

      Bridgetown blickte nachdenklich drein. »Steht Ihr Entschluss in Zusammenhang mit den Ereignissen des gestrigen Abends?«

      »Ja. Ich will erst abreisen, wenn geklärt ist, warum mein Vater starb. Warum haben Sie mich nicht darüber informiert, dass Spuren von Dynamit auf der Bothnia nachgewiesen wurden und dass die Dokumente dieser aus Ihrem Hause entwendet wurden?«

      »Der Inspector bestand darauf, dass hierüber Stillschweigen bewahrt werden sollte.«

      »Nun, Kapitän McMickan hat die Anweisung des Inspectors nicht befolgt.«

      »McMickan war ein jahrelanger Freund des verstorbenen Charles MacIver. Er ist in tiefer Trauer. Zudem ist er seit mehr als zwei Jahrzehnten für die Cunard Line tätig. Nachdem Tendman McMickan vorgeworfen hatte, die Cunard Line trage Schuld daran, dass er Geld verloren habe, weil diese ihn ein Schiff habe versichern lassen, welches eine Fehlkonstruktion in sich trug, sah McMickan sich in der Position, sich verteidigen zu müssen. Der Vorwurf Tendmans gegen die Cunard Line – und somit gegen seinen Freund, hat ihn dazu gebracht, etwas zu sagen, was er nicht hätte sagen sollen. Damit hat er unbeabsichtigt das Desaster am gestrigen Abend ins Rollen gebracht. Tendman hat mit seinem Auftritt gestern eine Lawine von Spekulationen ausgelöst, über mich, über das Lloyd’s Register, über andere Reedereien.«

      »Über all dies möchte ich mit Ihnen sprechen.«

      »Nicht hier, nicht jetzt.«

      Ryon nickte. »Sagen Sie mir, wann Sie Zeit haben.«

      Bridgetown sann kurz nach. »Nach der Beerdigung Ihres Vaters. Ich melde mich bei Ihnen.«

      »Gut.«

      Der Diener kam zurück und brachte neben dem Kaffee auch eine Schale mit Schokoladenkonfekt. Bridgetown dankte ihm und wandte sich dann wieder Ryon zu, dessen Blick Überraschung verriet, als er die Schokolade sah. »Dies Haus hier war einst ein Schokoladenhaus, Mr. Buchanan. Ein Italiener, der sich in London dann Francis White nannte, hat es gegründet. Es ist eine alte Tradition, zum Kaffee Schokolade gereicht zu bekommen.«

      Ryon lachte auf und nahm ein Stück. Gesprächsfetzen vom Nachbartisch drangen zu ihnen herüber. »… und darum pfeife ich auf Wetten über das Blaue Band, Herrschaften. Lasst uns lieber das nächste Rennen in Ascot ins Auge fassen.«

      »Oh … ja! Ich habe bereits Karten für Rigina und mich gekauft. Sie kann es gar nicht abwarten …«

      »Keine Frau kann das abwarten …«

      Bridgetown schmunzelte. »In diesem Haus wird viel gewettet, Mr. Buchanan.« Sein Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal ernst. »Werden Sie den Inspector darüber informieren, dass Sie noch länger in London bleiben?«

      Ryons Gesichtszüge verhärteten sich schlagartig. »Nein, wozu? Er wird mich nicht über seinen Ermittlungsstand informieren und sollte er zu einem Ergebnis kommen, erfahre ich es ohnehin. Aus Freundlichkeit oder Anstand besteht kein Anlass: Der Inspector war in jeder Hinsicht abweisend zu mir. Er hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er weder Fragen noch Einmischung wünscht und überdies hat er sich abschätzig über meine Herkunft geäußert.«

      »Ich denke, Sie haben dem etwas entgegenzusetzen, Mr. Buchanan. Und haben Sie etwas Nachsicht – der Inspector ist noch jung. Er muss noch lernen. Dass der Bürgerkrieg vorbei ist, ist beispielsweise ein gutes Zeichen.«

      »Ich glaube nicht, dass der Krieg vorbei ist – nicht für die Afrikaner und erst recht nicht für das Volk meiner Mutter. Dass man sie tötet, ihnen die Freiheit und ihr Land raubt, ihre Kultur, ihre Sprache, zeigt, dass der Krieg nicht vorbei ist. Die Oglala, zu denen meine Mutter gehört, ein Zweig der Lakotas, die wiederum zu den Sioux gehören, werden in Reservate gesperrt. Man hat sie zu Bedürftigen degradiert, die für ihr Essen anstehen müssen.«

      Bridgetown sah ihn nachdenklich an. »Die Berichte, die uns in England erreichen, werden von Weißen geschrieben. Mir ist durchaus bewusst, dass die Wahrheit oft anders aussieht.«

      »Sie sieht anders aus.«

      »Wissen Sie, wo ihre Mutter lebt?«

      »Mein Vater sagte damals, sie sei zu ihrem Stamm zurückgekehrt. Ich nehme an, sie ist in Wyoming, South Dakota oder Nebraska. Vielleicht lebt sie noch in Freiheit, vielleicht ist sie bereits in einem Reservat.«

      »In Ihnen sind zwei Welten vereint. Das stelle ich mir schwierig vor.«

      »Es gibt nur eine Welt, Mr. Bridgetown.«

      Sie saßen eine Weile schweigend beieinander, bis Ryon schließlich in seine lederne Tasche griff. Er holte ein Paket hervor. »Würden Sie mir einen Gefallen tun und Ihrer Nichte dieses Geschenk von mir überreichen?«

      Bridgetown sah überrascht auf. »Ja, das kann ich tun. Möchten Sie, dass ich Alessa etwas ausrichte?«

      »Richten Sie Ihr einen lieben Gruß aus.«

      Bridgetown seufzte. Den Blick auf das Paket gerichtet, sprach er: »Morgen Abend werde ich meiner Schwester und meiner Nichte einen Besuch abstatten. Dann werde ich Gelegenheit haben, Ihr Geschenk Alessa zu überreichen.«

      Ryon nickte. »Ich danke Ihnen.« Einige Sekunden vergingen. »Es gibt noch etwas, dass ich Sie fragen wollte.« Bridgetown sah ihn aufmerksam an. »Hat mein Vater bei seinen Besuchen über mich oder meinen Bruder gesprochen?«

      »Früher tat er das, aber in den letzten Jahren nicht mehr. Er hielt alles Persönliche zurück, seit Sie und Ihr Bruder nach Maine


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