Gegen die Spielregeln. Philea Baker

Gegen die Spielregeln - Philea Baker


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gleichgültig gewesen.«

      Ryon sah überrascht auf. »Wieso glauben Sie das?«

      »Bei jedem seiner Besuche zog er im Lloyd’s Register Erkundigungen über die Thompson Werft ein.«

      Ryon wandte seinen Blick ab. »Das erstaunt mich, ehrlich gesagt«, sagte er, sich Bridgetown wieder zuwendend.

      »Mich nicht«, antwortete Bridgetown knapp.

      Ryon stand auf. »Ich glaube, es ist Zeit zu gehen. Vielen Dank für das Gespräch.«

      »Ich begleite Sie hinab.«

      Auf dem Treppenabsatz stießen sie auf Kapitän McMickan, der mit einem jungen Mann im Gespräch war. Bridgetowns Gesicht verdüsterte sich.

      »Mr. Bridgetown …« McMickan nickte zum Gruß, wie auch der junge Mann an seiner Seite.

      »Guten Tag, Mr. McMickan, Mr. Inman«, erwiderte Bridgetown und ging ohne Halt an diesen vorbei. Ryon nickte knapp und folgte ihm.

      »Ich bin auf McMickan nach dem gestrigen Vorfall nicht gut zu sprechen, auch wenn ich seine Handlungsweise nachvollziehen kann«, sprach Bridgetown. »Das wird sich wieder legen, aber im Moment ist etwas Distanz wohl das Beste.«

      »Das kann ich nachvollziehen«, pflichtete Ryon ihm bei. »Wer war der junge Mann, der bei ihm stand?«

      »Alaister Inman. Der Geschäftsführer der Inman Line.«

      »Er ist ziemlich jung für einen Geschäftsführer.«

      »Ja. Sein Vater hat über Jahrzehnte die Inman Line geführt und ist letzten Winter verstorben. Als einziger Sohn William Inmans führt er jetzt das Unternehmen weiter. Eine Menge junger, erfolgreicher Männer wirbelt aktuell das Geschehen auf und verweist uns Alte möglicherweise bald in den heimischen Sessel: Carlisle, Sie … vielleicht macht Inman seine Sache ebenso gut und bringt frischen Wind in die Reederei.«

      »War er auch auf dem Ball gestern? Ich kann mich nicht erinnern, sein Gesicht gesehen zu haben.«

      »Nein, er war nicht da. Eingeladen war er in jedem Fall. Vielleicht ist er erst seit heute in London. Der Mann hat sicher alle Hände voll zu tun und muss sich erst einmal ins Geschäft einarbeiten. Und sich das Geschwätz von McMickan anhören«, schob Bridgetown säuerlich nach. »Ich hoffe sehr, McMickan beherzigt, was Baker ihm gestern gesagt hat nach dem Ausfall von Tendman.«

      »Was hat Baker gesagt?«

      »Baker hat ihm gedroht, ihn einzusperren, wenn er noch weiter Dinge ausplaudert, die er ausdrücklich für sich behalten soll.«

      Ryon blickte ihn mit ernster Miene an und eine Mischung aus Bitterkeit und Vorwurf lag unterschwellig in seiner Stimme, als er schließlich sprach. »Abgesehen davon, dass Sie einen Schaden davontrugen, weil Kapitän McMickan die Anweisung des Inspectors nicht befolgt hat, bin ich diesem hierfür sehr dankbar. Ich hätte sonst nicht erfahren, dass es sich tatsächlich um Sabotage auf der Bothnia handelt.«

      »Darum geht es nicht, Mr. Buchanan! Sie müssen dies nicht wissen, auch wenn Sie ein persönliches Anliegen haben. Es ist Sache des Met, alleinige Sache des Inspectors, Fakten zu sammeln und den Fall aufzulösen.«

      »Vertrauen Sie Inspector Baker, ich tue es nicht. Ich sehe mich frei, zu tun, was ich will, selbst nachzuforschen.«

      »Ihr Vater und andere Menschen sind ums Leben gekommen. Sie setzen sich möglicherweise einer Gefahr aus, wenn Sie Nachforschungen auf eigene Faust betreiben.«

      Sie hatten den Ausgang des White’s erreicht. Ryon warf nachdenklich einen Blick hinaus und wandte sich dann wieder Bridgetown zu. »Leben überhaupt heißt in Gefahr sein, das hat Nietzsche gesagt, und ich denke, es ist wahr. Ich werde Nachforschungen auf eigene Faust betreiben«, er hob die geballte Faust, »so wie Sie Ihrer Faust vertrauen, dass sie das richtige tut.« Er ließ seinen Blick auf Bridgetowns Hand sinken.

      »Das war etwas völlig anderes gestern«, entgegnete Bridgetown brüsk.

      »Nein, Mr. Bridgetown. Sie konnten nicht anders. Und ich kann auch nicht anders.«

       KAPITEL 9

       Montag, 15. Juni 1874, 11:00 Uhr St Thomas’ Hospital

      Der Schmerz kam in Wellen und ließ den ausgemergelten Körper wieder und wieder von Kopf bis Fuß erzittern. Die bläulichen Lippen der Patientin waren kaum mehr als ein Strich. Trotz der Hitze reichte das weiße Laken bis unter ihre Kinnspitze. Sie wollte es so. Sie hatte ihren Körper verbergen wollen. Nicht wegen ihr, es war wegen der Männer. »Es ist mein Körper«, hatte sie vor Stunden geflüstert, »er gehört nur mir. Die Männer sollen weggehen.« Aber es gab hier keine Männer. Alessa wusste, dass das alles im Kopf von Gladys war. Ihrer Patientin zuliebe hatte sie auch die Vorhänge zugezogen, der Raum lag im Halbdunkel. Es war still. Die Welt draußen, sie war weit weg.

       ›Schaffst du es allein?‹

       ›Ich denke, ja.‹

       ›Du rufst mich, wenn du merkst, dass du der Sache nicht gewachsen bist.‹

       ›Das mache ich.‹

      Florences Worte gingen ihr durch den Kopf. Schaffte sie es wirklich? Oft schon hatte sie Sterbende begleitet, aber bisher nie allein. Heute hatte niemand Zeit. Es hatte einen Kutschenunfall auf der Kensington Road gegeben. Auf der dicht befahrenen Straße war es infolgedessen zu einer Massenkarambolage gekommen: Insgesamt sechs Kutschen waren ineinander gefahren. Alessa wusste nicht, wie viele Verletzte ins St Thomas’ Hospital gebracht worden waren. Sie hatte bloß mitbekommen, dass in der Aufnahme ein großes Chaos herrschte. Sie strich über Gladys’ Hand. Eine Hand aus Haut und Knochen. Sie wusste, dass Gladys immer weniger wahrnahm, immer weniger spürte. Sie reagierte kaum noch auf ihre Berührungen. Die Reizschwelle sank, ein Zeichen, dass es zu Ende ging.

      Gladys Temple war erst Anfang dreißig. Alessa strich ihr eine Strähne aus der glühend heißen Stirn. Die Frau entspannte sich unter Alessas Berührung.

      »Es ist so gut, dass du da bist, Tom. Du bleibst doch, oder?«

      »Ich bleibe bei dir. Ich bin da.«

      »Gut. Ich fühle mich besser, wenn du da bist.«

      Alessa griff nach einem frischen Tuch, tauchte es in die Schüssel mit kaltem Wasser und wusch ihr die Stirn. Es war in Ordnung, dass sie vorgab, Tom, Gladys’ verstorbener Ehemann, zu sein – alles war gut, solange es Gladys half. Danach schlief Gladys ein und Alessa glaubte schon, dass sie nicht mehr aufwachen würde. Aber dann rekelte sie sich plötzlich wieder unter der Decke und versuchte sogar, sich aufzurichten, was ihr aber nicht gelang. »Die Kinder …«, sie sah Alessa direkt an, »die Kinder sind bei Eleonore, ja? Sie passt doch auf die Kinder auf, ja?«

      Alessa schluckte. Es fiel ihr schwer, zu lügen, wenn die Frau sie ansah. »Die Kinder sind bei Eleonore. Es geht ihnen gut, Gladys.«

      Gladys sank erschöpft zurück. Die Augen öffnete sie nicht mehr. Von Zeit zu Zeit zuckte ihr Körper. Nur noch ein einziges Mal sprach sie. Es war ein leises Wimmern, aber Alessa verstand sehr gut, was sie sagte. »Mama, komm.«

      Die Kapelle des St Thomas’ Hospital befand sich im Ostflügel des Hauses. Es war ein schlichter Raum mit einem kleinen Altar und einigen wenigen Stühlen darin. Gedämpftes Licht fiel durch die bunten Fensterscheiben. Florence war eine zutiefst gläubige Frau. Sie hatte Wert daraufgelegt, dass die Kapelle jederzeit für jeden zugänglich war, egal ob Arzt, Krankenschwester, Patient oder Besucher. Tatsächlich wurde der Raum regelmäßig morgens vor Dienstantritt von den Schwestern genutzt, die ihren Tag mit einem stillen Gebet begannen. Tagsüber oder abends suchten vereinzelt Patienten und Besucher die Kapelle auf. Hin und wieder fand sich sogar mitten in der Nacht die eine oder andere Schwester hier ein. Oder einer der Ärzte.

      Alessa war gekommen, um für Gladys zu beten. Den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet, bewegte sie


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