Gegen die Spielregeln. Philea Baker

Gegen die Spielregeln - Philea Baker


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ins Gesicht. Dieser fiel der Länge nach um und blieb reglos liegen.

      Entsetzte Aufschreie von Frauen erfüllten den Raum, ein allgemeiner Aufruhr machte sich breit. Von irgendwoher hörte man eine Stimme rufen »Dann könnte man ja alle Reedereien verdächtigen!«, eine Frauenstimme schrie: »Vielleicht ist es ja der Indianer gewesen! Er war doch am Tag der Explosion auf der Bothnia!«

      »Wir benötigen einen Arzt!«Bei diesen Worten löste Alessa sich aus ihrer Starre. Sie schritt zu ihrem Onkel und dem auf dem Boden liegenden Versicherer der Bothnia, kniete sich neben diesen und begann ihn zu untersuchen.

      »Ich wusste nicht, dass Tendman derart aus der Rolle fallen würde, Mr. Bridgetown.« Es war Kapitän McMickan, der zu ihnen getreten war. »Er warf der Cunard Line Inkompetenz vor! Wir hätten die Fehlkonstruktion des Motors zu verantworten. Ich musste dies richtigstellen. Seine fälschliche Behauptung schadet dem Ansehen der Cunard Line. Charles MacIver ist bei diesem Sabotageakt zu Tode gekommen!«

      Baker trat zu ihnen. Der Blick, den er Kapitän McMickan zuwarf, war eiskalt. »Ich hatte Sie um Stillschweigen gebeten. Es hat Tote und Verletzte gegeben, der Motor Ihres Schiffes wurde zerstört. Wenn Sie noch einmal meine Ermittlungen behindern …«, Baker beugte sich ein wenig vor und sprach leise weiter, »lasse ich Sie einsperren, bis dieser Fall gelöst ist.«

      Kapitän McMickan sah erschrocken auf.

      Alessa sah sich nach ihrer Tante um. Hatte Beth nicht eben noch neben Onkel Bridgetown gestanden? Sie hätte ihre Hilfe jetzt gebrauchen können!

      »Mr. McMickan. Vielleicht könnten Sie und noch jemand helfen, diesen Mann in einen der Nebenräume zu tragen, damit ich ihn versorgen kann, ohne dass dreihundert Menschen dabei zusehen!«

      McMickan nickte und einer der Gäste bot Hilfe an. Als sie den Raum verließen, begann das Orchester wieder zu spielen, und obwohl es laut war, konnte es den allgemeinen Aufruhr nicht wirklich überdecken.

       KAPITEL 4

       Sonntag, 14. Juni 1874, 9:00 Uhr Ocean King

      Eine leichte Brise wehte über die Themse und trug den Geruch von salziger See in die Stadt. Der Himmel zeigte sich in sattem Blau, kein Wölkchen war zu sehen. Schon jetzt konnte man die Hitze erahnen, die der Tag bringen würde. Ryon betrachtete stolz die Ocean King, während er den Pier entlangschritt. Die Viermastbark war das erste Schiff, das er konstruiert hatte. Er hatte sein Schiff angemeldet, er hatte Palmer’s Shipbuildung besucht, Alexander Carlisle getroffen und den langjährigen Freund seines Vaters, Richard Bridgetown, kennengelernt. Alles war wie geplant gelaufen. Alles, bis auf das mit seinem Vater. Schmerz erfüllte augenblicklich seine Brust. Dass die Reise nach England die Differenzen mit seinem Vater besiegeln würde, hatte er nicht ahnen können.

      An der Ocean King angekommen, verweilte er einen Moment. Die Bark lag tief im Wasser; ein Zeichen dafür, dass die Fracht das Schiff an die Grenzen seiner Kapazität brachte. Im Laufe des Tages würde sie in See stechen und unter der Führung von Kapitän William Freeman nach Boston auslaufen, wo sie den Eignern Henry Sears & Co. übergeben werden würde. Das geschäftige Treiben zu beobachten, welches die letzten Vorbereitungen vor der Abreise eines Schiffes mit sich brachten, löste ein angenehmes Kribbeln in seinem Körper aus. Auch wenn er nicht mitfahren würde.

      »Ryon?« Die Stimme von Kapitän Freeman riss ihn aus seinen Gedanken. »Komm an Bord!«

      Über den schmalen Steg bestieg er das Schiff und umarmte seinen Freund zur Begrüßung.

      Im Arbeitszimmer von Kapitän Freeman war der große Tisch ausgelegt mit Karten. Freeman hatte offenbar, wie geplant, die Zeit in London genutzt und sich mit George Garrad, dem berühmten Kartographen, getroffen. »Die neuen Karten von Garrad, schau sie dir an«, erklärte Kapitän Freeman feierlich.

      Ryon beugte sich über den Tisch und betrachtete die Karten. Er staunte, denn sie waren anders als die Karten, die er bislang gesehen hatte. »Das sieht interessant aus.«

      »Ja. Allerdings. Das sind meine Neuigkeiten. Nun zu dir. Wo ist dein Gepäck?«

      »Ich fahre nicht mit. Ich bleibe hier.«

      Freeman seufzte. »Zu Hause wartet man auf dich.« Er schüttelte den Kopf. »Du willst wissen, wer dich um die Möglichkeit gebracht hat, die Dinge aus der Welt zu schaffen, die zwischen dir und deinem Vater standen«, sagte er und machte eine kurze Pause. »Dein Vater hat dich geliebt, dich und deinen Bruder. Er war ein viel beschäftigter Mann mit zwei Söhnen ohne Mutter. Er hat Fehler gemacht. Lass es doch dabei bewenden. Außerdem wird dieser Inspector der Sache nachgehen.«

      »Nein. Ich will mich nicht auf diesen Inspector Baker verlassen, ich werde den Dingen selbst auf den Grund gehen!«, erklärte Ryon hitzig. »Damit ich eines Tages sagen kann: So ist es gewesen. Lege ich es in die Hände des Inspectors, wird es vielleicht immer im Dunkeln bleiben.«

      Kapitän Freeman kannte Ryon gut. Er hatte ihn schon auf dem Schoß gehabt, als er noch ein Kind gewesen war. Er hatte ihn mit nach Brasilien genommen, als die Dinge zwischen Ryon und seinem Vater eskalierten. Er hatte ihm nach Abschluss des Studiums die Thompson Werft in Maine empfohlen, unweit von seinem eigenen Zuhause in Portland gelegen. Er war für ihn da, wie sein Vater für ihn hätte da sein sollen und kannte ihn daher besser als jeder andere. Genau deshalb wusste er, dass er Ryon nicht würde umstimmen können. Wenn der Junge einen Beschluss gefasst hatte, konnte ihn nichts und niemand davon abbringen. In dieser Hinsicht war Ryon stur. Ganz wie sein Vater.

      »Also gut.« Kapitän Freeman nickte beschwichtigend. »Wann kommst du nach?«

      »Sag Thompson, ich habe vor, mit der Britannic zurückzukehren. Dann wäre ich Anfang Juli zurück.«

      Freeman nickte. »Er wird nicht begeistert sein.«

      Ryon zuckte mit den Schultern. Es war ihm nicht egal, was Thompson dachte, aber er musste tun, was er tun musste.

      »Muss ich mir Sorgen machen, wenn du auf eigene Faust Nachforschungen anstellst?«

      Ryon schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann gut auf mich aufpassen.«

      »Hm. Das hast du schon einmal gesagt, damals in Brasilien …«

      »Damals war ich ein Kind.«

      Freeman räusperte sich und zog ihn schließlich in seine Arme. »Ich will, dass du auf dich achtgibst. Zu Hause braucht man dich. Vergiss das nicht!«

      »Das vergesse ich gewiss nicht«, versprach Ryon, die Umarmung erwidernd.

       KAPITEL 5

       10:30 Uhr Romney Street

      Ein leichter Windstoß blähte die weißen Vorhänge vor den bodentiefen Fenstern und ließ frische Luft in den Raum strömen. Ein strahlend blauer Morgen versprach bestes Wetter für den Tag. Alessa rekelte sich in ihrem Bett. Ihre Lider fühlten sich bleischwer an. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte 10:30 Uhr an. Sie richtete sich auf, wobei das Buch Untrodden Peaks and Unfrequented Valleys von Amelia Edwards aus dem Bett fiel, in dem sie in der Nacht gelesen hatte, um sich von den Ereignissen auf dem Ball abzulenken. Sie beugte sich hinab, um es aufzuheben. Versonnen blickte sie auf den Buchumschlag. Es war ein Reisebericht von Amelia Edwards, die zusammen mit ihrer Freundin Lucy Renshaw die italienischen Dolomiten überquert hatte. Wie mochte es sich wohl anfühlen, nicht zu wissen, was der nächste Tag bringen wird? Wenn jeder Tag ein neues Abenteuer versprach? Sie hatte noch nicht viel von der Welt gesehen. Einmal war sie am Meer gewesen, in Clacton-on-Sea. Sie war beeindruckt gewesen von der Weite, von dem Wind, der bisweilen so stark gewesen war, dass sie Mühe gehabt hatte, sich aufrecht halten zu können. Trotzdem war sie froh gewesen, wieder nach Hause zu kommen. Wie die meisten anderen wahrscheinlich auch. Amelia Edwards kehrte auch immer wieder nach London zurück. Die letzte große Reise hatte sie vor vier Jahren unternommen, nach Ägypten. Es hieß, sie schriebe gerade an einem neuen Buch über diese Reise. Beim Stichwort


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