Gegen die Spielregeln. Philea Baker

Gegen die Spielregeln - Philea Baker


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retten. Ihre Augen tasteten unverhohlen seine Gestalt ab. Seine Kleidung sprach von gutem Geschmack, wer könnte das besser beurteilen als sie, Tochter eines Kleidermanufakturbesitzers. Langsam wanderten ihre Augen wieder hinauf. Sie schrak augenblicklich zusammen, als ihre Blicke aufeinandertrafen. Rasch wandte sie sich um – und stieß mit Gerald Bonniers zusammen. »Alessa. Bist du am Träumen? Ich wollte dich zu einem Glas …«

      »Besten Dank, Gerald, aber ich habe bereits einiges getrunken. Außerdem hatte ich gerade etwas vor …« Sie schob sich an ihm vorbei, ließ ihn einfach stehen. Aufgelöst sah sie sich um: Eliza war nirgends zu sehen. An ihrem Tisch saß Onkel Richard mit einem Mann, den sie nicht kannte. Beth war ebenfalls nirgends zu sehen. Sie durchquerte rastlos den Raum. Bis ihr eine Idee kam.

      Ryon Buchanan schien ihr übergroß, als sie sich durch die Menschenmenge schob und sein Rücken in ihr Blickfeld kam. Einen winzigen Augenblick lang wankte sie, ob sie ihr Vorhaben wirklich in die Tat umsetzen sollte. Aber in diesem Moment wandte er sich um. Überraschung spiegelte sich in seinen Augen, als er sich ihr plötzlich gegenübersah. »Ms. Arlington.« Er deutete eine Verbeugung an und wollte an ihr vorbeigehen. Fast erschien es ihr, als wolle er flüchten, aber sie vereitelte sein Vorhaben, indem sie ihm in den Weg trat. Die Augen fest auf ihn gerichtet, lächelte sie ihn charmant an. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Mr. Buchanan?«

      Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er, als wüsste er nicht, wie er reagieren sollte. Dann jedoch formte sich sein Mund zu einem Lächeln. Er beugte sich zu ihrem Ohr vor, sodass seine Worte nur von ihr wahrgenommen werden konnten. In diesem Moment roch sie ihn zum ersten Mal. Es war wie ein Rausch, wie eine Droge, die sich ihrer bemächtigte und sie augenblicklich schwindeln ließ. Seine Stimme, tief und weich, klang fern, obwohl er ihr ganz nah war. »Ja. Aber nur, wenn Sie versprechen, mir einige Fragen zu beantworten.«

      Bestürzt riss sie die Augen auf. Was meinte er damit?

      »Ms. Arlington? Was ist?«, drängte er.

      »Natürlich«, erwiderte sie, um Gelassenheit bemüht, »fragen Sie nur.«

      Er reichte ihr den Arm, um sie zur Tanzfläche zu führen. War es ein Fehler gewesen, ihn um einen Tanz zu bitten? Wieso suchte sie seine Nähe? Um ihm zu zeigen, dass sie selbstbewusst war? Um ihm zu zeigen, dass er sie längst zum Tanz hätte auffordern sollen? Fatalerweise hatte sie bereits mehrere Gläser Champagner getrunken. Die von ihren Freundinnen oft beschriebenen Folgen des Alkohols traten unglücklicherweise alle zugleich auf: Die Musik klang mit einem Male anders, die Menschen um sie herum verschmolzen zu einer undeutlichen Masse, ihr schwindelte und der einzige ruhige Punkt, den sie fixieren konnte, war ausgerechnet Ryon Buchanan, der sie den ganzen Abend wie Luft behandelt hatte. Sie hatte sich einen Spaß erlauben, ihm eine Lektion erteilen wollen, weil es sie verletzt hatte, dass er sie nicht zum Tanz aufgefordert hatte. Aber nun, als sie vor ihm stand und zu ihm aufsah, schwand aller mädchenhafter Schalk, der sie zu diesem Unternehmen angetrieben hatte. Ryon betrachtete sie intensiv. Und sie war sich nicht sicher, was er sah. Er streckte den linken Arm aus und lächelte. Sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, wie er ihre Hand sanft aufnahm und er seine rechte Hand, die in einem Verband steckte, auf ihrer Taille platzierte. Hitze durchflutete ihren Körper.

      Ryon war ein ausgezeichneter Tänzer. Die Musik schien geradewegs durch seinen Körper zu fließen und sich auf den ihren zu übertragen. Sie schloss die Augen, hörte, fühlte und roch. Ryon verströmte einen herben Duft von Holz und Kräutern, Ferne, Freiheit und Meer … Als sie wieder aufsah, ruhte sein Blick auf ihr. Es war, als sähe er direkt in sie hinein. »Schwindelig?«

      »Oh ja«, gab sie zu.

      »Tanzen Sie trotzdem mit mir weiter?«

      »Ja. Sie tanzen hervorragend.« Sie spreizte die Finger weit über seine Schulter. In ihrem Bauch kribbelte es. Ihre Nase streifte seinen Hals, als sie sich drehten. Seine Haut fühlte sich weich und warm an. »Wie geht es Ihrer Hand, Mr. Buchanan?«

      »Die Brandblasen sind aufgegangen.« Er schmunzelte. Um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen. »Ich habe Ihre Anweisung befolgt, Ms. Arlington, und die Salbe regelmäßig aufgetragen. Es hat sich nichts entzündet.«

      »Das ist gut.« Sie nickte zufrieden.

      Nach einer kurzen Pause hob er wieder an zu sprechen. »Ihr Onkel sagte mir, dass Sie darüber nachdenken, auszuwandern. Ist das wahr?«

      Die Frage überraschte sie. Onkel Richard hatte mit Ryon Buchanan über sie gesprochen? Wieso hatte er ihn wissen lassen, dass sie Pläne hatte, auszuwandern? Irritiert sah sie ihn an. »Ich denke darüber nach, ja. Ich bin eine moderne Frau und möchte Medizin studieren. Aber das ist, zumindest hier in England, für Frauen so gut wie unmöglich. Falls man es schafft, einen Platz an einem College zu erhalten – was wirklich sehr schwierig ist – kann man zwar studieren, aber keinen Abschluss machen. Die Frauen, die in England studieren, müssen allesamt für ihren Abschluss ins Ausland gehen.«

      »Das ist, als besäße man ein Pferd, das man nicht reiten darf.«

      Alessa hielt die Luft an und biss sich auf die Unterlippe. Der Vergleich war mehr als unkonventionell. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, mehr Sachlichkeit in das Gespräch zu bringen. »In diesem Jahr wird die Leiterin meines Krankenhauses, Florence Nightingale, mit anderen Frauen, die bereits in Amerika studiert haben, die London School of Medicine for Women eröffnen, um Ärztinnen auszubilden. Ich könnte dort einen Studienplatz bekommen. Aber erst nächstes Jahr. Sie sagt, sie brauche mich im Krankenhaus, da sie selbst mit dem neuen Projekt stark eingebunden sei. Das ist ebenfalls eine Option, über die ich nachdenke.«

      Ryons Hand umfing sie fester. Die Stelle auf ihrem Rücken glühte. »Ich habe den Eindruck, Ms. Arlington, dass Sie kein Freund von Halbherzigkeiten sind, dass Sie genau wissen, was Sie wollen. Sie wollen Medizin studieren, einen Abschluss machen. So bald wie möglich.«

      »Das haben Sie völlig richtig erkannt, Mr. Buchanan. Deshalb überlege ich auch noch immer, nach Amerika auszuwandern, um dort zu studieren. Dieses Jahr schon.«

      »Haben Sie sich schon beworben?«

      Sie nickte. »Ja. Dennoch weiß ich nicht, ob ich wirklich gehen würde, falls ich eine Zusage bekäme …«

      »Was hält Sie davon ab?«

      Genau genommen hielt sie nur John ab. Aber das konnte sie ihm unmöglich sagen. »Eine gute Frage«, sagte sie stattdessen. »Vielleicht fällt es mir schwer, England zu verlassen. Ans andere Ende der Welt zu ziehen.«

      »Amerika ist in weniger als zehn Tagen zu erreichen. Mehr nicht. Es sei denn, Sie möchten an die Westküste oder ins Landesinnere.«

      Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Es gibt zwei Colleges, die infrage kommen. Beide liegen an der Ostküste. Einmal das Women’s Medical College of the New York Infirmary in New York, das Elizabeth Blackwell gegründet hat, und zum anderen das Boston Female Medical College. Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, dass diese Städte nicht ganz ungefährlich seien.«

      Ryon schmunzelte. »Ich habe in New York studiert. Und ich lebe noch.«

      Sie lachte auf. Sie sind aber ein Mann, wollte sie ihm entgegnen, unterließ es aber. Er war zweifelsohne ein Mann. Aber kein Weißer. Vermutlich hatte er es nicht leicht gehabt in New York. Sie entschied, das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken. »Was haben Sie studiert, Mr. Buchanan?«

      »Mathematik und Philosophie.«

      Verdutzt sah sie ihn an. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, sprach er weiter. »Auch ich habe mein Zuhause verlassen. Ich bin in der Nähe von Philadelphia, Pennsylvania, großgeworden.«

      Sie sah, wie sich auf Ryons Stirn Falten bildeten. Er wirkte mit einem Male angespannt. »Ms. Arlington, Ihr Wunsch, Medizin studieren zu wollen, beeindruckt mich, ebenso wie die Tatsache, dass Sie sich bereits mit den Möglichkeiten der Realisierung befasst haben.« Er schürzte die Lippen. »Sie werden Ihren Weg gehen, da bin ich mir sicher.« Mit dieser Feststellung hatte er die letzten Worte für sich beansprucht, denn das Orchester beendete das Stück. Atemlos blieb sie vor ihm stehen. Er ließ ihre Hand los, doch nahm er seine Rechte nicht von ihrer Taille, als


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