Gegen die Spielregeln. Philea Baker

Gegen die Spielregeln - Philea Baker


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der Bothnia. Zwei von uns sind noch drin und suchen. Es heißt, der Geschäftsführer der Cunard Line sei noch im Maschinenraum, zusammen mit einem Ingenieur, der sich den Motor ansehen wollte. Ist das der Mann, den Sie suchen?«

      »Ich glaube, ja. Würden Sie mir Ihren Helm und Ihre Uniform leihen?«

      »Es sind zwei Leute von unseren Jungs drin, Mister. Und wenn Sie mich fragen, die hätte unser Chef gar nicht reinschicken sollen. Meine Kollegen riskieren ihr Leben für nichts. Da drin lebt keiner mehr, da bin ich sicher.«

      Ryon blickte ihn mit eisiger Miene an. »Es ist mein Vater, nach dem ich suche.«

      Der Brigadist sog die Luft laut durch die Nasenflügel ein. »Sie sind doch gar kein Weißer. Das soll Ihr Vater sein, da drin?«

      »Mein Vater ist Amerikaner. Meine Mutter Lakota. Genügt Ihnen das als Erklärung?«

      Der Brigadist betrachtete ihn skeptisch, reichte ihm jedoch den Helm und zog seine Uniform aus. »Das ist die Hölle da drin«, meinte er.

      Ryon zog sein Jackett aus, stieg in die Uniform und setzte sich den Helm auf. »Das glaube ich Ihnen. Aber ich muss gehen. Haben Sie vielen Dank.«

      Die Hitze schlug ihm wie ein Peitschenhieb ins Gesicht. Durch die Augenschlitze erkannte er verschwommen Feuer am Ende des Ganges. Entschlossen ging er darauf zu, doch mit jedem Schritt wurde die Hitze unerträglicher. Lautes Prasseln und Zischen betäubte seine Ohren. Plötzlich wurde er aus dem Nichts heraus grob angestoßen. Er stützte sich mit seiner Rechten an der Wand ab. Ein blitzartiger Schmerz schoss in seine Hand: Die Wand glühte. Schwach meinte er die Umrisse eines Mannes zu erkennen, der einen anderen schulterte. Er blickte noch einmal den Gang hinunter zum Maschinenraum. Alles war orange, verzerrt. Eine weitere Gestalt tauchte plötzlich auf, fasste ihn grob an der Schulter und zog ihn mit sich zum Ausgang. Er besaß kein Quäntchen Luft mehr in den Lungen. Das Gefühl, zu ersticken, war alles bestimmend.

      Kaum dass sie draußen waren, sog er gierig die frische Luft in seine Lungen. Er beugte sich vornüber, der Helm fiel hinab. Seine Haut glühte. Als er die Augen aufschlug, besah er sich seine Hand, auf der sich gerade Brandblasen bildeten. Er sah sich nach Wasser um, fand einen Eimer und ließ die Hand darin versinken. Er öffnete die Uniform und strich sie von sich ab. Ihm war heiß, unfassbar heiß. Mit der linken Hand krempelte er die Ärmel hoch, öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes. Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig von der Anstrengung. Die gebräunte Haut und das große Tattoo auf seiner Brust, welches durch sein offenes Hemd zutage trat, glänzten von Hitze und Schweiß. Unweit von ihm entfernt standen die beiden Männern der Fire Brigade, die mit ihm im Maschinenraum gewesen waren. Sie wurden von Kollegen und Krankenschwestern versorgt. Auf dem Boden lag der Mann, den sie herausgeholt hatten. Es war sein Vater. Ein Arzt saß kniend vornübergebeugt vor diesem. In der nächsten Sekunde war er bei ihm. Schwere Verbrennungen und Verletzungen, vermischt mit Blut, waren sichtbar. Der Brustkorb seines Vaters hob und senkte sich kaum wahrnehmbar, die Augen waren geschlossen. Sein Vater bewegte die Lippen, sie formten ein Wort, ohne jedoch einen Laut zu bilden. Unversehens zog er deutlich hörbar die Luft ein, dann sank sein Oberkörper zusammen und regte sich nicht mehr.

      »Für diesen Mann kommt jede Hilfe zu spät«, sprach der Arzt. Er atmete tief ein. »Sie kannten ihn?«, fragte er Ryon zugewandt.

      »Er ist mein Vater.« Ryon ergriff die Hand seines Vaters und murmelte leise Worte in seiner Muttersprache. Kaum dass er gesagt hatte, was er seinem Vater hatte sagen wollen, erklang eine helle Frauenstimme.

      »Dr. Croft?« Eine Krankenschwester trat zu ihnen. »Wir bräuchten Ihre Hilfe auf dem Achterdeck. Wenn Sie Zeit hätten …«

      Ryon musterte sie. Die Krankenschwester war größer als die meisten Frauen. Ihre schwarze Schwesterntracht war durchnässt und klebte an ihr. Sie blickte abwechselnd auf seinen Vater und ihn, Traurigkeit und Überraschung spiegelte sich in ihren bernsteinfarbenen Augen.

      »Ich komme«, sprach der Arzt. »Mein Beileid«, sagte er zu Ryon, während er aufstand.

      Dieser nickte und sah den beiden nach, als sie gingen. Die Krankenschwester drehte sich noch einmal um, wandte sich aber sogleich abrupt ab, als sie gewahr wurde, dass er sie ansah. Der Arzt schritt mit ihr zu einem Policeman, der Ryon aus der Ferne taxierte. Sofort hatte er das Gefühl, dieser habe ihn schon länger im Visier. Trotz seiner jugendlichen Ausstrahlung wirkte der Mann abgebrüht. Das Chaos an Deck schien ihn nicht im Geringsten zu erschüttern. Ryon stand auf und schritt wieder zum Eimer, um seine Hand zu kühlen. Er atmete tief durch, betrachtete seinen Vater, der nun von zwei Männer der Fire Brigade auf eine Trage gelegt wurde.

      »Wer sind Sie? Was hatten Sie da drinnen zu suchen?«, wurde er barsch zur Rede gestellt. Er blickte in kühle, graue Augen. Es war der Policeman. Sein Blick durchbohrte ihn förmlich.

      »Mein Name ist Ryon Buchanan. Ich wollte meinen Vater aus dem Feuer retten.« Ryon wies mit dem Kopf auf seinen toten Vater. »Und wer sind Sie?«

      »Das können Sie irgendwem erzählen, aber nicht mir! Halten Sie sich aus unserer Arbeit raus. England ist nicht Amerika. Wir befinden uns nicht in der Prärie. Hier macht nicht jeder, was er will.«

      Ryons Miene verfinsterte sich. »Offenbar schon.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür, aus der noch immer schwarzer Rauch drang.

      »Ein Dampfkessel ist explodiert. Offenbar ein technischer Defekt.«

      »Warum sind Sie dann hier, Mister …?«

      »Baker. Inspector Orville Baker. Ich bin hier, um sicherzustellen, dass kein Verbrechen vorliegt, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht der Fall ist. Die Bothnia ist ein brandneuer Segeldampfer. Sie wäre nicht das erste Schiff, das aufgrund eines technischen Defekts ein Unglück ereilt.«

      Ryon beugte sich vor und seine Augen verengten sich zu engen Schlitzen. »Mein Vater ist tot.« Er nahm die Hand aus dem Eimer und betrachtete die Verbrennung, bevor er wieder anhob zu sprechen und sich dem Inspector zuwandte. »Im Maschinenraum riecht es nach Dynamit.«

      »Haben Sie auch Geister gesehen da drinnen, die uns Hinweise geben könnten?« Der Inspector lachte spöttisch auf. »Wir untersuchen die Unglücksstelle und prüfen jeden Mann. So arbeitet man in England, nicht mit der Nase.«

      »Das ist der Blick eines Wasicu. Der Schuldige befindet sich möglicherweise gar nicht mehr auf dem Schiff, Inspector Baker. Sie sind später eingetroffen als die Krankenschwester – ihre Kleidung ist nass, die Ihrige trocken.«

      Der Inspector rümpfte die Nase. »Wie sind Sie überhaupt auf dieses Schiff gekommen? Und wann?«

      »Ich bin mit Mr. Bridgetown auf dieses Schiff gekommen. Nach dem Regen, wie Sie sehen.«

      »Ich werde das prüfen.«

      »Machen Sie das. Ich werde jetzt Mr. Bridgetown aufsuchen.« Mit diesen Worten wandte Ryon sich ab.

      Unwillkürlich rückte der Schmerz wieder in den Vordergrund, vertrieb jeden anderen Gedanken. Eine leichte Brise zog über das Schiff und ließ ihn innehalten, spontan den Kopf in den Nacken werfen und die Augen schließen. Das Bild seines sterbenden Vaters war sogleich da. All das Blut. All die Verletzungen. Sein Brustkorb, der sich hob und zum letzten Mal senkte. Er hatte den Namen seiner Mutter ausgesprochen, ohne einen Laut.

      Ryon öffnete die Augen wieder und sah in den blauen Himmel. Er musste Bridgetown finden.

      Auf dem oberen Deck war dieser nicht mehr. Auch der Kapitän war nirgends zu sehen. Die erhöhte Position erlaubte ihm jedoch, das Schiff zu überblicken. Schließlich fand er Bridgetown auf dem Achterdeck stehend, bei den Verletzten und den Krankenschwestern.

      Ein Schreckensszenario bot sich seinen Augen, als er die Treppen zu diesem hinabstieg. Fünf verletzte Männer zählte er. Weiter rechts, in einigem Abstand, registrierte er drei mit Tüchern zugedeckte Körper. Die Verletzten wimmerten und stöhnten, während die Krankenschwestern sich mühten, sie mit sauberem Wasser, frischen Tüchern und Verbänden soweit zu versorgen, dass sie für den Transport ins Krankenhaus bereit waren. Auf dem Boden neben ihm lagen zu eben diesem Zweck Tragen


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