Gegen die Spielregeln. Philea Baker
im Maschinenraum her. Vielmehr entsprang sein Unbehagen einem Gefühl, das er nicht einzuordnen vermochte, das ihn verwirrte und ihn, was er sich noch weniger eingestehen wollte, auch irgendwie in Sorge versetzte: Er hatte von ihr geträumt. Alessa hatte Besitz von ihm ergriffen.
Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig, als einzelne Bruchstücke seines Traums wieder in sein Bewusstsein drangen. Er fragte sich, ob sein Gefühl, auch etwas in ihr ausgelöst zu haben, ein Hirngespinst sein mochte oder aber der Wirklichkeit entsprach. Er dachte darüber nach, wie sie sich bewegt, wie ihre Stimme geklungen hatte, und letztlich sann er darüber nach, was er über sie von Bridgetown erfahren hatte. Die Tatsache, dass Alessa eine Waise war, ließ ihn nicht los. Irgendwie fühlte sich das nach Nähe an, als wisse er etwas über ihr Leben oder sie vielleicht über seines. Dass sie nach Amerika auswandern wollte, um zu studieren und sich selbst zu verwirklichen, beschäftigte ihn ebenfalls.
Was war bloß passiert? Seine Welt stand Kopf. Er sollte besser seine Sinne beisammenhalten. Sein Vater war Opfer eines Verbrechens geworden, davon war er überzeugt. Er sollte in London bleiben, bis geklärt war, was auf der Bothnia geschehen war. Sich nicht auf einen jungen Inspector verlassen, der sich wichtigtat. Oder seine Zeit damit zuzubringen, an eine Frau zu denken. Egal, wie beeindruckend sie war.
Ryon stöhnte leise. Sie war hübsch. Die hübscheste Frau, die er jemals gesehen hatte. Aber das war es nicht, was dieses Gefühl in ihm auslöste. Es war mehr das, was er in Alessa zu sehen geglaubt hatte, das dieses Gefühl auslöste. Hinzu kam, dass er glaubte, es würde nicht weggehen. Nicht einfach so. Vielleicht niemals.
Der Gedanke schnürte ihm die Luft ab. Er richtete sich auf und stieg aus dem Bett, ging zur Anrichte, griff nach der Karaffe und füllte Wasser in eine Schüssel. Wieder und wieder tunkte er den Lappen hinein, fuhr sich damit über Brust, Hals und Gesicht. Dann nahm er Alessas Dose, schraubte sie auf und salbte seine Hand ein. Sein Blick fiel auf den Koffer, den er neben der Anrichte abgestellt hatte. Der Koffer seines Vaters. Dieser war noch am Abend eingetroffen. Bridgetown hatte sich darum gekümmert, dass der Besitz seines Vaters von dessen Hotel zu ihm gebracht wurde. Er hatte den Koffer auf der Stelle durchgesehen. Schon beim Öffnen war ihm der altbekannte Geruch seines Vaters in die Nase gestiegen. Er hatte sich schlagartig mit der Vergangenheit konfrontiert gesehen, der gemeinsamen Zeit, die noch immer schmerzhaft auf ihm lastete. Außer Kleidungsstücken und den Ausweispapieren hatte er ein Buch mit technischen Notizen gefunden, mehr nicht.
Er schraubte die Dose zu und stellte sie zurück auf ihren Platz. Anschließend richtete er den Blick auf seinen Wahukeza, der ebenfalls auf der Anrichte lag. In den nächsten Tagen würde er auf seine Übungen mit der Oglala-Waffe, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, verzichten müssen. Seine Finger glitten kaum merklich über den messerscharfen Obsidian. Wann hatte er das letzte Mal ohne das tägliche Training auskommen müssen? Es musste Jahre her sein. Irgendwie war alles aus den Fugen geraten.
Er schritt zum halbgeöffneten Fenster. Nacheinander öffnete er beide Flügel zur Gänze, dann stützte er sich mit der gesunden Hand auf dem Sims ab und sog die frische Nachtluft tief in die Lungen ein. Auf seinem nach wie vor heißen Körper bildete sich eine Gänsehaut. Die Pflastersteine unterhalb seines Fensters reflektierten das Licht der Laternen. In den Pfützen am Straßenrand kräuselte sich das Wasser. Es plätscherte – nicht stark, doch so, als wolle es niemals aufhören. Seitdem er in England war, hatte es mehr geregnet als in einem ganzen Monat in Maine. Jäh und unerwartet überkam ihn das Gefühl der Fremde. Was mochte sein Vater empfunden haben in dieser Stadt? Oft war er hier gewesen, über viele Wochen hinweg, Jahr für Jahr, das wusste er. Auch wenn er keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt hatte, hieß das nicht, dass er nicht über ihn Bescheid wusste. Er wusste so einiges. Nun war sein Vater tot. Die Möglichkeit, sich noch einmal auszusprechen, war für immer erloschen. Seine Aufgabe war es, dies zu akzeptieren, anzunehmen, dass es so war.
KAPITEL 3
Samstag, 13. Juni 1874, 20:00 Uhr Claridge’s
Der 14. Ball des Lloyd’s Register of Shipping fand wie jedes Jahr im Claridge’s statt. Das berühmte Hotel in Mayfair bot alles, was für dieses Ereignis vonnöten war: die richtige Lage sowie luxuriös ausgestattete, architektonisch beeindruckende und ausreichend große Räume für rund dreihundert Gäste. Alessa kannte das Claridge’s gut, da sie ihren Onkel und ihre Tante bereits zum dritten Mal begleitete. Es war einer der letzten Bälle in London, bevor die Saison sich dem Ende zuneigte. Alles, was Rang und Namen besaß, verschwand die Sommermonate über in die See-Regionen nach Bath, Clacton-on-Sea und andere renommierte Kurorte. Die Stadt war bereits jetzt angenehm leergefegt, wie Alessa es spitzbübisch auszudrücken pflegte.
Der Ball hatte einen völlig anderen Charakter als alle anderen Bälle. Mitarbeiter des Lloyd’s Register, Schiffseigentümer, Schiffsoffiziere und Kapitäne, Ingenieure, Investoren, Versicherer, schlicht alle, die mit Schiffen zu tun hatten, trafen sich hier. Die Veranstaltung wurde von Männern dominiert, und diese waren nicht etwa aufgrund ihrer Abstammung hier, sondern aufgrund ihres Könnens. Diese Tatsache und der Umstand, dass sie aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt kamen, fesselten Alessa. Sie interessierte sich für fremde Sitten und Gebräuche, für all die fernen Länder, deren Namen in ihren Ohren bisweilen so seltsam klangen, als handle es sich um fiktive Welten. Ein weiterer Grund, warum Alessa diesen Ball liebte, war, dass ihre Stiefmutter Fiodora bei dieser speziellen Veranstaltung nie zugegen war. Auch wenn Richard Bridgetown seine Schwester immer wieder einlud, sagte sie jedes Mal ab. Das viele Gerede über Schiffe, das Meer und ferne Länder langweile sie: »Was ist an einem Schiff so besonders? Es schwimmt auf dem Wasser wie jedes andere Stück Holz auch!« und »Was interessiert mich die Unkultiviertheit anderer Länder? Sieh sie dir doch alle nur an, Richard: Sie kommen nach London! Hier spielt die Musik!« waren ihre Kommentare. Außerdem waren ihr die Gattinnen der Kapitäne oder Ingenieure, sofern vorhanden, zu simpel. »In dieser Gesellschaft, lieber Bruder, bin ich sicherlich völlig fehl am Platz.«
Darin steckte tatsächlich ein Fünkchen Wahrheit.
Als Alessa mit ihrem Onkel und ihrer Tante den weitläufigen Eingangsbereich des Claridge’s betrat, war es kurz nach acht Uhr. Obwohl sie all das kannte, verschlug es ihr wieder den Atem. Der Raum erstrahlte in goldgelbem Glanz. Gewaltige Kronleuchter glitzerten von der Decke und ihr Licht sprühte einen Reigen schillernder Punkte auf die Wände und den schwarz-weiß gefliesten Boden. Einige Gäste verweilten in Gespräche vertieft vor dem Kaminsims, unter den Arkaden oder vor der schwungvollen Treppe, die zum Ballsaal in den ersten Stock führte. Schwerer Moschusduft lag in der Luft.
Ihr Ankommen blieb nicht unbemerkt. Überall nickte man ihnen zu und hier und dort wurden sie in ein kurzweiliges Gespräch verwickelt. Die Blicke der Damen hafteten auf Alessas Robe.
Sie trug ein blassrotes Kleid aus Tussahseide, welche von einer floralen Struktur durchsetzt war. Der runde Ausschnitt des Dekolletés und auch der des Rückens waren mit Brüsseler Spitze versehen. Die Rückenpartie des Kleides war geschnürt, die schmalen Ärmel, die über die Ellenbogen reichten, schlossen ebenfalls mit der Spitze ab. Fast ein Jahr lang hatte das Kleid im Schrank gehangen, sie hatte es explizit für diesen Ball aufgehoben. Viele Frauen hatten ihre Haare nur teilweise hochgesteckt, wie es der neue Schick war. Sie hingegen hatte sich von Laura, dem Dienstmädchen, überzeugen lassen, dass ihr die klassische Hochfrisur am besten zu Gesicht stand. Eine mit kleinen, tiefblauen Saphir-Steinen bestückte Kette zierte ihren schlanken Hals. Das kostbare Schmuckstück war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. ›Aus Montana, mein Schatz.‹ Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem er ihr die Kette überreicht hatte. Die Erinnerung schmerzte. Nichts war mehr, wie es war. Er fehlte.
Sie schritten an einem großen Spiegel vorbei und für einen kurzen Moment erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Sie war kein kleines Mädchen mehr: Sie war eine Frau mit einem Lebensplan. Sie würde die Dinge selbst in die Hand nehmen. Wenn sie es nicht tat, würden es andere für sie tun. Fiodora machte keinen Hehl daraus, dass sie sie verheiraten wollte – und zwar bald. Nun, gegen das Heiraten hatte sie ja gar nichts einzuwenden. Es musste nur der Richtige sein. Und wer das war, das wusste sie, Alessa, besser als Fiodora. Er war heute Abend nicht zugegen. Aber das minderte