Gegen die Spielregeln. Philea Baker
Jeder Winkel des Raumes strahlte Macht und Eleganz aus: Orientalische Teppiche bedeckten den Boden des großen Büros, beeindruckende Gemälde mit Schiffsmotiven schmückten die Wände. Er wurde von dem Bediensteten vorgestellt. Bridgetown reagierte im ersten Moment irritiert, doch dann blitzten seine Augen auf. Er erhob sich und kam ihm entgegen.»Mr. Buchanan, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Ryon ergriff die ihm dargebotene Hand. »Mr. Bridgetown, es ist mir eine Ehre.«
Bridgetowns Blick durchbohrte ihn förmlich. »Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen einen Brandy anbieten? Oder einen Gin Fizz?«
»Ich bevorzuge ein Glas Wasser.«
Bridgetown hob die Brauen, wies dann auf den Sessel vor seinem Schreibtisch und schritt zu einem Buffet, auf dem einige Flaschen standen. Ryon nahm in dem ihm offerierten Sessel Platz und betrachtete den muskulösen Mann, der Wasser aus einer Karaffe in ein Glas füllte und einen der oberen Schränke öffnete, um daraus eine Flasche zu entnehmen und sich aus dieser ein Glas einzugießen. Bridgetown war schlank und von stattlicher Größe. Seine halblangen, grauen Haare waren nach hinten gestrichen und hingen teilweise über die Ohren. Die Koteletten waren ebenfalls grau, nur der Schnurrbart schwarz. Er hatte eine gerade, kurze Nase und buschige Brauen. Obwohl sich seine Mundwinkel hinabneigten, wirkte dies weder abschätzig noch bitter, sondern vielmehr entschlossen. Der Vorsitzende des Lloyd’s Register strahlte Stärke aus.
Bridgetown durchquerte den Raum und reichte ihm das Glas Wasser. Nachdem er sich gesetzt und sein Glas auf dem Schreibtisch abgestellt hatte, lehnte er sich zurück und musterte ihn aufmerksam. »Juni 1851 ist es gewesen, als Ihr Vater hier das erste Mal in diesem Sessel saß, in dem Sie nun sitzen. Er erzählte mir damals, dass er sehr bald Vater werden würde. Ich erinnere mich an dieses Zusammentreffen mit Ihrem Vater noch sehr genau. Ich weiß, dass er seinen Aufenthalt in London verkürzte, um rechtzeitig zu Ihrer Geburt daheim zu sein.«
»Ich kam am Tag seiner Rückkehr abends auf die Welt.«
»Ich weiß.« Bridgetown beugte sich über den Schreibtisch. »Lassen Sie uns auf unsere Zusammenkunft anstoßen.« Sie stießen an. Bridgetown lehnte sich wieder zurück. Einen Moment lang war nur das Plätschern der Regentropfen gegen die Fensterscheiben zu hören. »Es ist Ihnen sicher nicht entgangen, dass ich soeben einen Moment benötigte, Sie mit Ihrem Vater in Verbindung zu bringen.«
»Sie sind nicht der Einzige, dem es schwerfällt, eine Ähnlichkeit zwischen meinem Vater und mir zu entdecken. Mein Bruder und ich sind nach der Mutter geraten.«
Bridgetown sah ihn nachdenklich an. »Ja, es ist offensichtlich, dass Ihr Vater Ihnen nichts von seiner weißen Haut vererbt hat. Dafür aber hat er Ihnen etwas anderes mitgegeben: die Leidenschaft für den Schiffsbau.«
»Ich habe sehr viel von meinem Vater über Schiffsbau gelernt, das ist richtig.«
Bridgetown hob die Brauen, verzichtete jedoch auf einen Kommentar hierzu. »Wie lange sind Sie schon in London?«
»Vier Tage. Ich hätte Sie gern früher aufgesucht, aber mein Weg hat mich zunächst zu Palmer’s Shipbuilding nach Jarrow geführt, da ich Charles und George Palmer sprechen wollte, bevor sie nach Liverpool reisen.«
»Nathaniel Thompson interessiert sich für den Bau doppelbödiger Schiffe?«
»Nein. Ich bin für eine Zusammenarbeit mit der Harland Werft diesbezüglich angefragt worden. Heute morgen traf ich mich mit Alexander Carlisle, um ihn über meine jüngsten Erkenntnisse zu informieren und die weiteren Schritte zu besprechen.«
»Davon hat er mir gar nichts erzählt! Ich traf Alexander Carlisle im Zuge der Registrierung seiner Britannic kürzlich hier im Hause. Die White Star Line kann sich glücklich schätzen, einen Ingenieur wie ihn in ihren Reihen zu haben. Das dürfte eine spannende Zusammenarbeit für Sie werden.«
»Das denke ich auch. Man kann nur von ihm lernen.«
»Dasselbe sagte er über Sie.«
Ryon sah verblüfft auf.
»Carlisle sagte mir, Sie hätten nicht nur das Know-how, sondern auch die Weitsichtigkeit eines Brunels. Er beschrieb Sie mir als einen Mann mit Fantasie, reich an unkonventionellen Ideen.«
Ryon nahm einen Schluck Wasser. »Ich weiß dieses Lob sehr zu schätzen«, erwiderte er.
Ein greller Blitz ließ den Raum hell aufleuchten, ein tiefer Donnerschlag folgte.
»Das ist England«, kommentierte Bridgetown mit Blick zum Fenster.
»Für die einen ist es England, für die anderen Wakinyan, der Donnervogel.«
Bridgetown lachte auf und nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Diesen Samstag findet der alljährliche Ball des Llyod’s im Claridge’s statt. Ich würde Sie gern mit einigen Leuten bekannt machen.«
»Vielen Dank für die Einladung. Ich komme ihr gerne nach.«
Es klopfte an der Tür und gleich darauf stürzte ein junger Mann in das Büro.
»Mr. Bridgetown«, stieß dieser mit aufgelöster Miene aus, »auf der Bothnia gab es eine Explosion. Möglicherweise ist der Geschäftsführer der Cunard Line, Charles MacIver, tot oder unter den Verletzten. Es wurde übermittelt, dass er sich just zum Zeitpunkt der Explosion im Maschinenraum befand.«
Bridgetowns Miene verfinsterte sich augenblicklich. »Wann ist das passiert?«
»Vor etwa einer Stunde.«
»Lassen Sie meine Kutsche vorfahren und sagen Sie meine Termine für heute Mittag ab.«
Bridgetown fasste die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen und legte sie in eine Schublade, richtete einen kleinen, silber eingefassten Bilderrahmen auf, der zwischen diesen lag und sah schließlich Ryon mit ernster Miene an. »Die Bothnia wurde vor vier Tagen in unserem Haus registriert. Ein bemerkenswertes Schiff. Das Beste, das die Cunard Line seit langer Zeit gebaut hat. Charles MacIver«, Bridgetown hielt kurz inne, bevor er weitersprach, »ist mir seit vielen Jahren bekannt.« Er verharrte abermals einen Moment. »Ich traf Ihren Vater gestern Abend im White’s Club, als er gerade mit Charles MacIver sprach. Er tat sein Interesse kund, die Bothnia zu besichtigen. Möglicherweise ist er auch auf dem Schiff.«
Ryons Wangenmuskeln spannten sich an. »Ich komme mit«, sagte er.
Bereits von Weitem war die Unglücksstelle zu erkennen: Eine riesige schwarze Rauchwolke stieg unheilversprechend von dieser in den Himmel auf. Aufgeregte Stimmen drangen vom Schiff zu ihnen herüber, während sie den Steg passierten. Die Luft war von einem beißenden Gestank erfüllt. William McMickan, der Kapitän der Bothnia, stand auf dem oberen Deck und blickte mit versteinertem Gesichtsausdruck hinab auf die Geschehnisse unter ihm. Ein Dutzend Policemen war damit beschäftigt, Ordnung ins Chaos zu bringen, die Mannschaft zu vernehmen und dafür zu sorgen, dass niemand das Schiff verließ. Ein Verbrechen könne bislang nicht ausgeschlossen werden, hieß es. Schmerzensschreie ertönten vom Achterdeck, auf das man offenbar die Verletzten gebracht hatte. Ein kurzer Seitenblick verriet Ryon, dass Bridgetown ihn besorgt ansah.
Das Unwetter hatte sich gelegt, die Sonne sandte bereits wieder ihre Strahlen aus. Es war nach wie vor unerträglich heiß, die Luft strotzte vor Feuchtigkeit. Alles wirkte scharf, grell und bunt. Alles, bis auf den Rauch, der dem Maschinenraum der Bothnia entstieg. Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, wurden sie von einem Constable auf das Schiff gelassen. Ohne Umschweife steuerte Ryon auf die Unglücksstelle zu. Bridgetown begleitete ihn ein Stück, entschied sich dann aber, auf das obere Deck zu gehen, um mit Kapitän William McMickan zu sprechen.
Ryon sprang die Stufen zum unteren Deck hinab. Wenige Schritte von der Tür entfernt, aus der der Qualm aufstieg, stand ein junger Mann der Fire Brigade, der seinen Helm unter dem Arm geklemmt hielt und angespannt auf die Tür blickte.
»Wissen Sie, wie viele Männer schon herausgeholt wurden?«, fragte Ryon ihn ohne Umschweife. Der junge Mann wandte sich ihm zu und blickte auf seinen Zopf, als sähe er einen Geist. »Sieben. Bis jetzt sind es sieben.«
»War darunter ein Mann von